In Russland hat das Parlament einem Gesetzentwurf zugestimmt, der »homosexuelle Propaganda« unter Strafe stellt. Seitdem wird aber auch öffentlich mehr über sexuelle Orientierungen debattiert.
Zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode kündigte die Führung der Partei »Einiges Russland«, die die größte Fraktion im russischen Parlament stellt, »ernsthafte Debatten« an. Seinerzeit hatte der jahrelang amtierende Parlamentssprecher Boris Gryslow das Motto geprägt, die Duma sei kein Ort für Diskussionen. Viel debattiert wird im russischen Parlament immer noch nicht und von Ernsthaftigkeit kann überhaupt keine Rede sein. Die Meinung fachlich kompetenter Personen ist bei russischen Abgeordneten selten gefragt, wie das jüngste Beispiel anschaulich zeigt.
Nach mehreren Anläufen entschied die Duma am 25. Januar in erster Lesung über ein Verbot »homosexueller Propaganda« unter Minderjährigen, das auf regionaler Ebene bereits vielerorts besteht. 388 Abgeordnete stimmten für den Gesetzentwurf, bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung. Die Fraktion der rechtspopulistischen »Liberaldemokraten« von Wladimir Schirinowski boykottierte die Abstimmung, da die Gesetzesinitiative an sich bereits »Homosexualismus« propagiere. Gegen den Entwurf sprach sich der Gewerkschaftsfunktionär Sergej Kuzin aus, der als Nachrücker der Partei »Einiges Russland« erst Mitte Januar ein Duma-Mandat erhielt. Vor der Abstimmung erlaubte er sich im Parlament eine kritische Nachfrage, intern gab er zu verstehen, er hätte nicht geglaubt, der Einzige zu sein, der mit »Nein« stimmt. Offiziell erklärte er am selben Abend, er habe aus Versehen den falschen Knopf gedrückt.
Zwischen umgerechnet 100 und 12 500 Euro soll die Geldstrafe für ein Vergehen betragen, dessen Inhalt nirgendwo eindeutig definiert wird. Denn was sich hinter den Begriffen »Homosexualismus« und »Propaganda« versteckt, können nicht einmal die Autoren des Gesetzentwurfs aus dem zuständigen Parlamentsausschuss für Familie, Frauen und Kinder präzise erklären. Bis Ende Mai sollen sie dem Klärungsbedarf nachkommen. Elena Mizulina, die in der Arbeitsgruppe federführend für die Ausformulierung des Gesetzestextes ist, beurteilt die Auswirkungen des Gesetzes schon jetzt zuversichtlich. In einem Interview mit der Tageszeitung Izvestia sprach sie davon, dass mit dem Gesetz eine Verbesserung der Einstellung gegenüber Homosexuellen zu erwarten sei. »Wird das Gesetz verabschiedet, ist sogar die Durchführung von Gay Prides möglich«, sagte Mizulina. Allerdings mit der nicht ganz unwichtigen Einschränkung, dass der Veranstaltungsort für Kinder unzugänglich sein muss. Aber auch dafür hält die Abgeordnete praktische Vorschläge bereit. So könnten für Homosexuelle spezielle Zonen in Parks abgegrenzt werden. Überdies sei Händchenhalten zweier Männer in der Öffentlichkeit kein Problem, aber die Begründung und Rechtfertigung von homosexuellen Handlungen oder eine Anstiftung zu diesen müsse strafbar sein. Denn es gebe in Russland ohnehin viel weniger Homosexuelle als Propaganda, davon ist die Familienpolitikerin überzeugt.
Vordergründig geht es den Moralaposteln um die sittliche Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen und um die Vorbeugung sexueller Gewalt, insbesondere gegen Jungen. Die immer wieder bemühte Gleichsetzung von Homosexualität und Pädophilie verhindert eine ernsthafte Diskussion. Vor diesem Hintergrund fällt es auch der LGBT-Bewegung nicht leicht, aufklärerische Akzente zu setzen. Einen Teilerfolg konnte sie Mitte September dennoch verzeichnen: Das Oberste Gericht befasste sich mit dem in Archangelsk geltenden »Propagandaverbot« und kam zu dem Schluss, dass ein Verbot »homosexueller Propaganda« der Verbreitung von »Informationen allgemeinen Charakters« und »neutralen Inhalts über Homosexualität« und selbst öffentlichen Debatten über den »sozialen Status sexueller Minderheiten« nicht widerspreche.
Am 25. Januar riefen LGBT-Gruppen zum wiederholten Mal in jener Woche zu einem Flashmob vor dem Gebäude der Duma auf. Sie wollten Küsse austauschen, stattdessen sahen sie sich mit einer Horde homophober Nationalisten konfrontiert, die Eier, Farbe und Pfefferspray zum Einsatz brachten. Diese organisieren sich hauptsächlich über die von radikalen Russisch-Orthodoxen betriebene Website »Drittes Rom«, über die auch ein Aufruf an Neonazis und rechte Fußballhooligans verbreitet wurde. Etliche LGBT-Aktivistinnen und -aktivisten wurden kurzzeitig festgenommen. Der Wissenschaftsjournalist und Biologielehrer Ilja Kolmanowskij versuchte, den Angreifern mit sachlicher Aufklärung zu begegnen. Wenige Tage später wurde er an seiner Schule anonym als homosexuell denunziert, die Kündigung folgte prompt. Eltern und Schüler setzten sich für Kolmanowskij ein und die Schulleitung sah sich gezwungen, einen formalen Kündigungsgrund vorzuschieben.
Zwar gibt es kaum Solidarisierungsgesten Nicht-Homosexueller mit der LGBT-Bewegung, doch öffnen sich oppositionelle Medien allmählich und bieten statt tendenziöser Berichterstattung wie im staatlichen Fernsehen immer häufiger eine Plattform für ernsthaftere Auseinandersetzungen. So wäre es vor wenigen Jahren wohl kaum denkbar gewesen, dass eine bürgerlich-liberale Internetnachrichtenseite Schwulen und Lesben ermöglicht, über ihr Coming-Out zu reflektieren.
Natürlich stellt sich die Frage, welche Absichten Parlament und Regierung mit der homophoben Gesetzgebung tatsächlich verfolgen. Eine quantitative Studie dürfte wohl das Ergebnis erbringen, dass über Homosexualität in Russland nie zuvor so viel gesprochen wurde wie heute. Angesichts des sich abkühlenden Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen und des von der Regierung forcierten Selbstverständnisses, Russland sei von Feinden umzingelt, dürften die vorhersehbaren kritischen Reaktionen auf das Gesetz aus dem Ausland der russischen Führung jedenfalls gut ins Konzept passen.
Ute Weinmann