Am Jahrestag der Performance der Aktionskünstlerinnen von Pussy Riot im Februar deutete nichts auf die Aufregung hin, die ihr Punk-Gebet im vergangenen Jahr auslöste. Zwei Frauen in bunten Strickmasken mit akademischem Hintergrund wollten an jenen spektakulären Auftritt durch die Niederlegung von Blumen im Altarbereich der Erlöserkathedrale in Moskau erinnern. Mit ihrer Initiative schafften sie es immerhin selbst in staatlichen Sendern kurz erwähnt zu werden. Ansonsten aber gilt, nur einschlägig bekannte Medien, meist regierungskritische Internetportale, widmen dem Ereignis, das seinerzeit weltweit für Schlagzeilen sorgte, noch gebührende Aufmerksamkeit. Seit der Urteilsverkündung gegen drei Mitglieder der Gruppe, so scheint es, hat sich das Phänomen Pussy Riot in Russland im Wesentlichen erledigt.
Für Interesse bei einer eher kleinen Minderheit sorgen aus den beiden Strafkolonien eintreffende Nachrichten, in denen zwei der drei verurteilten Pussy-Riot-Aktivistinnen ihre zweijährige Haftstrafe absitzen. In Interviews berichteten Nadezhda Tolokonnikowa und Maria Aljochina über ihre Haftbedingungen und trugen dazu bei, dass das Bild zweier engagierter Kämpferinnen nicht verblasst. Beide warten derzeit auf eine Entscheidung, ob ihrem Antrag auf vorzeitige Haftentlassung stattgegeben wird. Zumindest formal betrachtet steht im Fall Nadezhda Tolokonnikowa einem positiven Entscheid nichts im Weg, während Maria Aljochina sich von der Gefängnisleitung mehrere Tadel eingehandelt hat. Ein Problem, dem sich viele Häftlinge im russischen Strafvollzugswesen ausgesetzt sehen.
Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte im Übrigen vor Journalisten, auf die Entscheidung des Gerichts bezüglich einer vorzeitigen Haftentlassung keinerlei Einfluss ausüben zu können. Er wolle den Fall Pussy Riot nicht kommentieren. Auf die Anmerkung, dass der Präsident in dieser Sache früher weniger Zurückhaltung übte, sagte er, heute jedenfalls wolle er sich dazu nicht äußern. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die durch ihren Auftritt in jener Kathedrale, die wie keine andere in Russland die engen Beziehungen zwischen Staat und orthodoxer Kirche symbolisiert, kriminalisierten Aktionskünstlerinnen in ihrem Punk-Gebet die Mutter Gottes darum gebeten hatten, Putin zu verjagen. Anfangs nur wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt folgte schließlich ein Strafverfahren, obwohl eine doppelte Bestrafung von Gesetzes wegen ausdrücklich nicht zugelassen ist. Dabei ist zu vermuten, dass, nachdem es bereits den Anschein hatte die Angelegenheit sei ad acta gelegt, die Direktive zu einem rigiden Vorgehen von ganz Oben kam.
Derweil setzen sich einige wenige prominente Fürsprecher für die Verurteilten ein, wie beispielsweise die jüngst zur Miss Russland-2013 gekürte Elmira Abdrazakowa. Anfang März ergriff der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin Partei für beide Frauen. Beim zuständigen Gericht in Moskau legte er eine Rechtsbeschwerde ein, in der er die Rücknahme des Urteils gegen Pussy Riot fordert. Seiner Einschätzung nach enthielt die Urteilsbegründung keinerlei Bewertung hinsichtlich der Störung der öffentlichen Ordnung und der Beeinträchtigung des normalen Ablaufs in der Erlöserkathedrale durch die Aktion. Dementsprechend ließe sich auch keine Einordnung der Schwere des dem Urteil zugrundeliegenden Vergehens vornehmen. Nicht zuletzt konnte die Anklage kein religiöses Hassmotiv nachweisen. Ausgehend von diesen Tatsachen müsse das Urteil als unrechtmäßig außer Kraft gesetzt werden, heißt es im Beschwerdetext. Nur selten macht Lukin von seinem Amt derart vehement Gebrauch, dabei konnte er Kraft seiner Autorität in der Vergangenheit bereits mehrmals eine Neubewertung vor Gericht erwirken. Aber allein schon der Umstand, dass Lukin sich in diesem Fall eindeutig positioniert gibt zumindest einen Anstoß zu einer faktenorientierten Bewertung des Punk-Gebets, anstatt der von diffusen moralischen Wertvorstellungen geprägten Kontroversen des vergangenen Jahres.
In der russischen Öffentlichkeit – insofern man aufgrund der deutlich eingeschränkten Medienfreiheit und der damit verbundenen bescheidenen Möglichkeiten zur Verbreitung kritischer Positionen überhaupt von einer solchen sprechen mag – prallten die unterschiedlichsten Weltanschauungen aneinander und wer sich laut äußerte scherte sich meist wenig um eine halbwegs sachliche Argumentation. Radikale Orthodoxe, aber auch viele gemäßigte Gläubige beschuldigten die Aktionskünstlerinnen der Blasphemie, andere wiederum versuchten durch vermeintlich tolerante gutgemeinte Kommentare Pussy Riot in ihrem Tun zu verharmlosen und sparten nicht mit abwertenden Zuschreibungen („dumme Mädels“). Im oppositionellen Lager wiederum wurden zwar viele Solidaritätsbekundungen laut, inhaltlich konzentrierten sie sich allerdings auf die in dem Punk-Gebet enthaltene Putin-Kritik. Die Chefredakteurin des für eine moderate internationale Außendarstellung Russlands zuständigen englischsprachigen Fernsehsenders Russia Today, Margarita Simonyan, beklagte unlängst in einem Interview den „kolossalen Imageschaden“, den Russland wegen der ganzen Geschichte davon getragen habe.
Der emanzipative Gehalt der Aktionen von Pussy Riot wurde jedenfalls praktisch nicht wahrgenommen und bis heute fand auch keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem feministischen Ansatz der Gruppe statt. Dabei haben die Frauen oft genug ihre fundierten theoretischen Kenntnisse unter Beweis gestellt und sich offen als Feministinnen positioniert. Trotz mehrmaliger Ankündigungen anonym gebliebener Gruppenmitglieder, wonach weitere Aktionen geplant seien, folgten nach der Kirchen-Performance bislang keine weiteren Auftritte. Jekaterina Samutsewitsch, deren Urteil von zwei Jahren Haft in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde und die als einziges Pussy-Riot-Mitglied in Freiheit ihre Identität nicht mehr verbergen kann, gibt sich im allgemeinen eher zurückhaltend. Aber auch sie bekräftigt, der Kampf gehe weiter.
Unterschwellig hat die Punk-Performance bis heute nicht an Brisanz verloren. Immer wieder sorgt die radikale Aktionskunst von Pussy Riot als Reizthema für Aufruhr, ohne dass es dafür einer direkten Beteiligung der Frauen bedarf. Anfang März inszenierte der Schweizer Regisseur Milo Rau im Moskauer Sacharow-Zentrum einige der spektakulärsten „Moskauer Prozesse“ gegen Kulturschaffende als dreitätiges Reenactment-Spektakel unter Teilnahme tatsächlich Betroffener, Akteure der Gegenseite und von Anwälten, darunter auch den Prozess gegen die Frauen von Pussy Riot. Die Organisatoren ließen bereits im Vorfeld Vorsicht walten, statt öffentlichkeitswirksamer Ankündigungen ließen sie das Zentrum offiziell für den Besucherverkehr in jenem Zeitraum schließen. Die Behörden bekamen dennoch Wind von dem Veranstaltung. Ausgerechnet an dem Tag, als der Prozess gegen die Punk-Aktionskünstlerinnen nachgestellt wurde, erschienen Vertreter des Migrationsdienstes und überprüften die Reisedokumente des Regisseurs und aller anderen im Saal anwesenden Ausländer. Sie beließen es bei einer Verwarnung und zogen wieder ab, Stunden später tauchte allerdings eine Horde Kosaken und Polizei in Begleitung von Journalisten des auf Sensationsstories ausgerichteten kremltreuen Senders NTW auf und blockierten den Eingang zum Zentrum. Die Polizeisondereinheiten ließen die Kosaken gewähren, von denen einige in den Saal eingedrungen waren. „Wir sind gekommen um gesetzwidrige Handlungen vorzubeugen“, schrie einer der in voller Montur erschienenen Kosaken. „Wir sind zur Ehre von Christus und Russlands hier, für den Tod des Antichristen!“
Realität und Fiktion verschmelzen hier zu einem Spektakel, das die allseits präsenten Absurditäten und Widersprüche in der russischen Gesellschaft, die zwischen antimodernen Tendenzen und der Verankerung in einem rationalen Wertesystem, zwischen Obskurantismus und Aufklärung hin und hergerissen ist, auf den Punkt bringt. Die Kunsthistorikern, Kunstkritikerin und Kuratorin Jekaterina Djogot, die selbst an der erwähnten Aufführung im Sacharow-Zentrum beteiligt war, bescheinigte im Anschluss an die theatralische Unterbrechung des nachgestellten Prozesses, die Gegenwartskunst habe die „Rolle der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts“ auf sich genommen.
Doch trifft Degots wohlwollende Einschätzung beileibe nicht auf ungeteilten Rückhalt im russischen Kunstbetrieb, insbesondere wenn es um den wohl bekanntesten Beitrag moderner Aktionskunst aus Russland in der Gegenwart geht. Ausgerechnet eine Kunstausstellung mit dem Titel „Feminismus: Von der Avantgarde bis heute“ geriet zum Anlass klare Fronten zu ziehen und die Bedeutung des Phänomens Pussy Riot in der Aktionskunst zu verorten. Die Ausstellungskuratorinnen waren mit dem Anspruch angetreten, dem in Russland als sinnentstellendes Fest der „Liebe, des Frühlings und aller Frauen“ zelebrierten 8. Mai seine politische Dimension als internationaler Kampftag für die Rechte der Frauen zurückzugeben. Vor genau hundert Jahren gingen in St. Petersburg Frauen erstmals mit sozialen Forderungen auf die Straße.
Die Moskauer Künstlerin Viktoria Lomasko war eingeladen, mehrere Zeichnungen aus ihrer Serie „Chronik des Widerstands“ zur Verfügung zu stellen, die Augenblicke aus den Massenprotesten des vergangenen Jahres auf Moskaus Straßen festhält. Unter den ausgewählten Exponaten befanden sich auch Portraits von Frauen mit Plakaten, auf denen sich deren durchaus konträre Ansichten zu Pussy Riot manifestieren. Erst während der Ausstellungsmontage erfuhr Viktoria Lomasko von dem Gesinnungswechsel der Kuratorinnen, die von ihr forderten, ihre Exponate gegen andere einzutauschen. „Alles andere, nur nichts über Pussy Riot“ lautete die eindeutige Vorgabe. Lomasko wertete dieses Vorgehen als Zensur, die Presse reagierte prompt. Die Kuratorinnen wiesen den Vorwurf weit von sich und versuchten gleichzeitig Lomaskos Arbeiten zu diskreditieren. Pussy Riot passe nicht ins Ausstellungskonzept, denn sie hätten weder Manifeste noch sonstige Reflexionen zum Thema Gender hervorgebracht. Dem widersprach zurecht der bekannte Galerist Marat Guelman, indem er darauf hinwies, dass das entscheidende Vergehen der Kuratorinnen darin bestehe, jene Künstlerinnen vollkommen zu ignorieren, die heute in Russland den Inbegriff des Feminismus repräsentieren. Der Grund für den Rückzieher dürfte wohl der fehlenden Bereitschaft geschuldet sein, angesichts der Kriminalisierung nonkonformer Kunst in der jüngsten Vergangenheit selbst ein Risiko einzugehen. Die „Moskauer Prozesse“, zu denen auch die Aburteilung der Kuratoren der Ausstellung „Verbotene Kunst“ gehört, die es gewagt hatten, Bilder zu zeigen, die an anderer Stelle zuvor der Selbstzensur zum Opfer gefallen waren, haben in der Beziehung neue Massstäbe gesetzt.
Ultrakonservative Nationalisten und radikale Orthodoxe spielten als Scharfmacher bei der Skandalisierung und folgenden Kriminalisierung Kunstschaffender eine Schlüsselrolle. Die Kirche selbst sieht sich aber in so mancherlei Hinsicht als eigentliche Leidtragende. Zwar existieren keine Zahlen über Kirchenaustritte aus Protest gegen die harte Linie der Kirchenführung, doch wurde so mancher Fall bekannt, in dem Kirchgänger ihrem religiösen Oberhaupt die Gefolgschaft aufkündigten, da sie Milde gegenüber den verurteilten Frauen von Pussy Riot einforderten. Auch im Kirchenapparat waren durchaus unterschiedliche Positionen vertreten, wie auf das Punk-Gebet zu reagieren sei. Eine Schlussfolgerung scheint die Kirche jedenfalls gezogen zu haben: wenn man schon dem gemeinen Gläubigen kein Verbot auferlegen kann, dann zumindest doch den professionellen Kirchendienern. Unlängst erging eine neue Richtlinie, wonach dem Klerus eine persönliche Meinung untersagt wurde. Liberale Theologen vermuteten, dass die Reaktion der Kirche unter dem Vorgänger des jetzigen Patriarchen Kyrill wesentlich moderater ausgefallen wäre. Vielleicht für den einen oder anderen doch Grund genug die Mutter Gottes um Hilfe anzuflehen – allerdings in orthodoxer Manier ohne Punk und in gebotener Stille.
Ute Weinmann