In Russland gibt es keine politischen Gefangenen. Diese Ansicht vertrat jedenfalls der russische Präsident Wladimir Putin Anfang Oktober vor den Teilnehmern eines Wirtschaftsforums mit dem vielversprechenden Titel »Russland ruft!«. Eine kleine Einschränkung ließ er dennoch zu: »Sie alle wurden zu politischen Akteuren, sobald sie im Strafvollzug landeten.« Es gibt sie also doch. Zumal die Teilnahme an einer Demonstration wie am 6. Mai 2012, am Tag vor der Wiedereinführung Putins ins Präsidentenamt, durchaus ein politischer Akt ist. Zwölf Angeklagte müssen sich derzeit vor Gericht für die Teilnahme an vermeintlichen Massenunruhen an jenem Tag im Mai verantworten. Ihnen drohen Haftstrafen, für einen gesondert abgeurteilten dreizehnten Angeklagten fordert die Staatsanwaltschaft Zwangspsychiatrisierung
Das Konstrukt der Massenunruhen ist an sich unhaltbar und entspricht in keiner Weise der Formulierung des entsprechenden Strafparagrafen. Faktisch begrenzen sich Anschuldigungen und Beweismaterial im konkreten Fall auf Widerstand gegen teils brutale Festnahmen. Und selbst an dieser Stelle kann die Anklage nicht überzeugen. Zeugen und Betroffene, allesamt Polizeiangehörige, tragen zur Klärung des Sachverhalts kaum etwas bei. Sie erinnern sich an den Ablauf der Festnahmen von über 600 Demonstrationsteilnehmern nur fragmentarisch, erwähnen Provokateure in Masken, können die Angeklagten nicht als jene Personen identifizieren, die uniformierten Sonderpolizisten Kratzer und blaue Flecke zugefügt haben sollen.
Dem Antifaschisten Aleksej Gaskarow und weiteren Teilnehmern jener Demonstration steht der Prozess noch bevor. Anfang Oktober wurde seine Untersuchungshaft bis zum 6. Februar verlängert. Die Beweislage gegen ihn bleibt fragwürdig und stützt sich im Wesentlichen auf die Aussagen von Personen, deren Identität der Geheimhaltung unterliegt. Einziger Hoffnungsschimmer, der Farce ein Ende zu bereiten, ist eine von Putin in Aussicht gestellte Amnestie zum 20. Jahrestag der russischen Verfassung im Dezember. Zumindest könnte die russische Regierung auf diese Weise ihr Gesicht wahren.
Ute Weinmann