Die Amnestie der russischen Regierung für Straffällige fällt angesichts der sonstigen Repression bescheiden aus. Dafür wachsen die ökonomischen Probleme.
Zum Jahresende gab es ein Geschenk: ein längst überfälliges und wenig originelles. Anlässlich des 20. Jahrestags der russischen Verfassung trat eine Amnestie in Kraft, mit der Russland sich einiger der zahlreichen Fälle politischer Justiz auf galante Art und Weise entledigt. Präsident Wladimir Putin hat die Vorlage dafür geliefert, die Duma ihren Segen erteilt. Unter die Amnestie fallen etwa 25 000 Inhaftierte, unter ihnen Maria Aljochina und Nadezhda Tolokonnikowa von Pussy Riot, alle 30 in der Arktis festgesetzten Greenpeace-Mitglieder, aber lediglich acht von 27 wegen vermeintlicher Massenunruhen am 6. Mai 2012 Beschuldigten. Was wie ein Gnadenakt aussieht, spiegelt wohl nur die Vernunftebene politischer Entscheidungen wider, die in der russischen Führung gelegentlich hinter kleinlicher Rachsucht zu verschwinden droht. Diese Vernunft hat aber nicht ausgereicht, die Strafverfolgung wegen der Krawalle vom Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 komplett einzustellen, obwohl diese, wie der Bericht einer internationalen Expertenkommission schlussfolgert, von der Polizei provoziert wurden. Die Begnadigung Michail Chodorkowskis fällt nicht unter die Amnestie. Er hatte ein Gnadengesuch an Putin gerichtet und damit, so der Kreml, seine Schuld eingestanden.
Letztlich entgehen durch die Amnestie einige jener ihrer weiteren Haft oder einem Gerichtsprozess, gegen die ohnehin keine glaubwürdigen Beweise vorliegen. Unter die Amnestie fallen jedoch auch Straffällige, die noch vor ihrer Volljährigkeit mit den Mühlen der Justiz in Berührung kamen, des weiteren Schwangere, Frauen mit minderjährigen Kindern und Menschen im Rentenalter. Fast schon eine Sensation ist, dass die Duma in einem Punkt von der eingebrachten Variante abwich und Angehörige der Strafverfolgungsbehörden, die wegen Gewaltanwendung verurteilt wurden, nicht amnestierte. Es gibt im Strafrecht keinen Folterparagrafen, lediglich Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung. Dass Staatsdiener, die de facto wegen Folter verurteilt wurden, ihrer meist ohnehin geringen Strafe nicht entgehen, ist einzig das Verdienst von Menschenrechtsorganisationen. Ein schwer errungener Sieg mit hoher Symbolkraft, schließlich ist das Gewaltverhältnis zwischen Polizei und Bürgern ein Fundament des russischen Gesellschaftsmodells.
Die Befürchtung, staatlicher Willkür und Gewalt hilflos ausgeliefert zu sein, bestimmt das Bewusstsein eines Großteils der russischen Bevölkerung und lähmt deren Widerstand erheblich. Nach den gescheiterten Massenprotesten von 2012 blicken viele mit Neid auf die von Protesten erschütterte Ukraine, wo das staatliche Gewaltmonopol zumindest in Teilen in Frage gestellt wird. Einschüchterungsmaßnahmen durch Spezialeinheiten auf dem Majdan-Platz in Kiew haben nicht den gewünschten Effekt, sondern verstärken den Protest. Allerdings verfügen ukrainische Polizisten nicht über Kriegserfahrung wie viele ihrer russischen Kollegen, die durch Einsätze in Tschetschenien geschult wurden.
Nicht allein die Angst vor repressiven Maßnahmen hält in Russland die meisten Menschen davon ab, auf die Straße zu gehen. Doch die Anzeichen für Unzufriedenheit mit den Verhältnissen mehren sich. Der jüngst veröffentlichte Armutsbericht des soziologischen Instituts der Akademie der Wissenschaften kommt zu dem Schluss, dass sich die Lage für Niedrigverdiener und sozial Benachteiligte in den vergangenen zehn Jahren erheblich verschlechtert hat. Nicht nur jeder achte Russe habe als arm zu gelten, wie die offiziellen Zahlen besagen, sondern etwa 30 Prozent. Rein äußerlich lassen sich die Vermögensverhältnisse nur schwer nachvollziehen. Ob iPhones oder Waschmaschinen – über Absatzprobleme kann der Handel nicht klagen. Um sich aber einen Lebensstandard nach westlichen Maßstäben leisten zu können, veräußern viele ihre noch aus Sowjetzeiten stammenden beziehungsweise nach dem Zerfall der Sowjetunion übertragenen Vermögenswerte wie Wohnungen, Datschen und Grundstücke. Über die Hälfte der russischen Bevölkerung hat zudem einen Kredit aufgenommen, viele geraten mit der Tilgung in Verzug. Ausstehende Rückzahlungen in Höhe von umgerechnet beinahe 200 Milliarden Euro drohen gar den Bankensektor zu ruinieren.
Nach jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum unterstützen nur noch 47 Prozent der Bevölkerung Putins Politik, ein knappes Drittel spricht sich mittlerweile gegen ihn aus. Damit steht Putin in Russland so schlecht da wie seit 2001 nicht mehr. Das westliche Ausland hingegen ist dem einst als Retter Russlands aus der Krise gepriesenen und später dämonisierten ehemaligen KGB-Agenten weniger kritisch gesonnen. Immerhin schaffte Putin es im Jahr 2013 auf Platz eins des Forbes-Rankings der einflussreichsten Personen. Seinen wegen des Öl- und Gasreichtums verlockenden Angeboten konnten weder Gerhard Schröder noch Silvio Berlusconi widerstehen. Und Putins mal gegen die USA, mal gegen die EU oder Homosexuelle gerichtete Rhetorik, die mit vermeintlich existierenden Tabus bricht und konservative Werte in die Welt trägt, trifft zwar hin und wieder auf Kritik, findet aber auch viele begeisterte Anhänger.
Doch obwohl Russland zweifellos zu den führenden Wirtschaftsmächten zählt, hat das Land eine vergleichsweise geringe Arbeitsproduktivität. Eine Modernisierung der Wirtschaft und technologische Innovationen scheinen notwendig. Zwar beauftragte Putin die Regierung mit der Umsetzung von Maßnahmen, die geeignet seien, die russische Wirtschaft zu modernisieren, doch diese klagt, ihr stünden dafür zu wenig finanzielle Mittel zur Verfügung. Gleichzeitig verstrickt sich die russische Führung durch eine ihren proklamierten Zielen entgegenstehende Praxis in Widersprüche. Als Paradebeispiel dafür dient die Reform der russischen Akademie der Wissenschaften, in der unverzichtbare Grundlagenforschung stattfindet und deren unabhängiger Status seit ihrer Gründung vor fast 300 Jahren im Wesentlichen nicht angetastet wurde. Die nunmehr vorgesehene stärkere bürokratische Kontrolle durch fachlich inkompetente Beamte werde zu einer Abwanderung wissenschaftlicher Fachkräfte führen, befürchten führende Akademiker. Eine Tendenz, die ohnehin nicht neu ist.
Seit seiner Wiedereinführung ins Amt betreibt Putin in erster Linie Herrschaftssicherung. Dafür dient zum einen der Prozess im Bolotnaja-Fall, der an sich längst seinen Zweck erfüllt hat; dafür braucht es nun aber auch ein Heer von Staatsdienern zur Kontrolle wissenschaftlicher Forschung und ein faktisches Staatsmonopol auf dem Medienmarkt. Die im Dezember bekanntgegebene Schließung der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti, die für soliden Journalismus durchsetzt mit gut getarnter Propaganda stand und auch bei jenen beliebt war, die 2012 für faire Wahlen protestierten, läutet eine neue Ära ein. An ihrer Stelle entsteht eine Institution, die sich vermutlich voll und ganz der Propaganda für Putins Herrschaftsmodell widmen wird. Als deren Leiter wurde der Fernsehmoderator Dmitrij Kiseljow berufen, der sich durch markige Sprüche einen Namen gemacht hat, wie der Forderung, man solle Herzen schwuler Männer verbrennen, da diese als Organspende zur Lebensverlängerung anderer Menschen unbrauchbar seien.
Ute Weinmann