Für ihren Antiterrorkampf verschärft die russische Regierung Gesetze. Die Jihadisten finden sich inzwischen nicht mehr nur in den Republiken des Nordkaukasus.
Die Nachrichten von dem Doppelanschlag in Wolgograd um die Jahreswende haben wenige Wochen vor den olympischen Winterspielen in Sotschi der Welt einmal mehr vor Augen geführt, dass Russland ein gewaltiges Sicherheitsproblem hat. Selten kommt dem gebührende Aufmerksamkeit zu, denn der Großteil terroristischer Aktivitäten trifft den Nordkaukasus, genauer gesagt Dagestan, Tschetschenien und auch das Stawropoler Gebiet. Entsprechend der hohen Konzentration islamistischer Zellen in Dagestan geht nach Einschätzung des russischen Sicherheitsapparats von dort die größte Gefahr aus. Soll ein Anschlag für maximale mediale Wirkung sorgen, muss es Opfer außerhalb dieser Regionen treffen. Bereits im Oktober starben in Wolgograd mehrere Menschen bei einer Bombenexplosion, doch erst die Bilder des Ende Dezember von einer heftigen Explosion erschütterten Hauptbahnhofs erreichten eine breite Öffentlichkeit.
Gemeinhin stehen die nuller Jahre in Russland für Stabilität, dabei hat sich in diesem Jahrzehnt im Vergleich zu den neunziger Jahren die Anzahl der Terrorakte um das Sechsfache erhöht. Zum Einsatz kamen seither öfter Frauen, bei etwa 30 Anschlägen innerhalb der vergangenen 13 Jahre waren sie die Täterinnen. Der Global Terrorism Index setzte Russland im Jahr 2011 auf Platz neun, seither hat sich die Lage keineswegs gebessert. Dabei stehen nicht allein Zivilisten im Visier, etwa ein Drittel der Terroranschläge gelten dem Polizeiapparat, außerdem Verkehrsobjekten und religiösen Einrichtungen oder deren Vertretern. Zudem verdingen sich manche Jihadisten in Dagestan zur Finanzierung als Erpresser und Auftragsmörder. Sotschi liegt einige hundert Kilometer entfernt von den Regionen mit der höchsten Terrorrate und dürfte derzeit zu den am besten gesicherten Gebieten Russlands gehören. Doch erinnern die Ereignisse in Wolgograd an den Aufruf des tschetschenischen Warlords Doku Umarow vom Juli, in dem er an alle Mujahedin im Kaukasus appellierte, die olympischen Spiele nicht zuzulassen.
Mitte Januar erklärte der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow seinen Erzfeind Umarow zum wiederholten Male für tot. Die russischen Geheimdienste wollen diese Information zwar bislang offiziell nicht bestätigen, doch liegen den tschetschenischen Ordnungskräften anscheinend Aufnahmen von Gesprächen vor, in denen Jihadisten sich gegenseitig ihr Beileid aussprechen und über die Notwendigkeit diskutieren, einen neuen »Emir des Kaukasus« zu wählen. Außerdem kommentierten dem islamistischen Untergrund nahestehende Informationsportale ein jüngst veröffentlichtes Video, in dem vom Tod Umarows die Rede ist. Der Stimme nach zu urteilen, soll darin der bekannte Kadi (islamische Richter) des »Emirats Kaukasus«, Abu Muhammad, den Tod Umarows öffentlich gemacht haben. Außerdem wurde bereits im Dezember bei einem in Syrien ums Leben gekommenen dagestanischen Jihadisten eine Videokassette sichergestellt, auf der vom Tod des Emirs die Rede ist. Bereits seit einigen Jahren soll Umarow mit ernsten Gesundheitsproblemen gekämpft haben, zudem setzten ihm diverse schwere Verletzungen zu, die zu seinem Tod geführt haben könnten. Von einer Leiche, die eindeutig Aufschluss über das Verbleiben des langjährigen Oberhaupts der Jihadisten und dessen Todesumstände geben könnte, findet sich bislang jedoch keine Spur.
Skepsis ist also angebracht, selbst wenn dieses Mal neben Behauptungen zumindest Indizien vorliegen. Allerdings könnte Kadyrows Versicherung auch als banale Geste an die russische Zentralregierung gedeutet werden, dass er seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Niederschlagung des islamistischen Untergrundes in Tschetschenien nachkommt. Dabei gilt es darauf hinzuweisen, dass die größte terroristische Bedrohung für andere russische Regionen bei weitem nicht von der tschetschenischen Republik ausgeht. Mit der offiziellen Beendigung des zweiten Tschetschenien-Kriegs und der großangelegten Antiterroroperation im April 2009 haben sich die Verhältnisse in Tschetschenien nur scheinbar beruhigt. Tschetschenische Warlords lassen seit 2009 Anschläge verüben, die sich gezielt gegen den Sicherheitsapparat in Kadyrows Republik richten. Umarows »Emirat Kaukasus«, das auf einem losen Terrornetzwerk aufbaut, dessen stärkste Basis bei dagestanischen und inguschischen jihadistischen Gruppen zu finden ist, erkennen die Warlords hingegen als Autorität nicht an. Vor zwei Jahren verkündete Umarow, er beabsichtige, seinen Posten abzugeben, doch so weit kam es nicht. Dieser Umstand spricht allerdings weniger für die Führungskraft des inzwischen womöglich verstorbenen Emirs als dafür, dass Umarow für den islamistischen Untergrund als symbolische Figur unverzichtbar war. Umarows Entscheidung, als Nachfolger seinen Landsmann Aslambek Wadalow einzusetzen, führte 2010 zu heftigen Zwistigkeiten und Umarow blieb auf seinem Posten. Eine anonyme Quelle im tschetschenischen Sicherheitsapparat teilte dem Internetportal »Kaukasischer Knoten« mit, Wadalow habe jetzt gute Chancen, das »Emirat Kaukasus« anzuführen.
Menschenrechtsorganisationen, die die Situation im russischen Teil des Kaukasus beobachten, schätzen die derzeitige Entwicklung als äußerst kritisch ein. Jekaterina Sokirjanskaja, Koordinatorin der International Crisis Group für den Nordkaukasus, wertete in ihrem Rückblick auf das Jahr 2013 als besonders besorgniserregend, dass einem weniger harten Durchgreifen und größerer Flexibilität im Antiterrorkampf eine Absage erteilt wurde. Sowohl in Dagestan als auch in anderen Nordkaukasusrepubliken haben eigens zur Integration ehemaliger Jihadisten eingerichtete Stellen de facto ihre Arbeit eingestellt. In Inguschetien fiel diese Entscheidung nach dem Mordanschlag auf den dortigen Vorsitzenden des Sicherheitsrats, Achmed Kotijew, im August vergangenen Jahres, in Dagestan erfolgte durch die Ernennung des neuen Präsidenten Ramasan Abdulatipow bereits im Januar ein Macht- und Kurswechsel. Auch der Dialog mit nicht gewaltbereiten Salafisten wurde praktisch aufgegeben, was in Dagestan zur vorübergehenden Schließung von religiösen Einrichtungen, Sportclubs und Kindergärten führte. Der Druck auf allen Ebenen, die Sicherheit der Olympischen Spiele in Sotschi um jeden Preis zu gewährleisten, begünstigt im Sicherheitsapparat die Anwendung harscher Gewaltmethoden, die jedoch nach Beendigung der Spiele, so die Befürchtung von Menschenrechtlern, zur Eskalation der Verhältnisse beitragen werden.
Hardlinern bietet Sotschi ungeahnte Möglichkeiten, sich zu profilieren, und die Anschläge in Wolgograd erleichtern Gesetzesverschärfungen zusätzlich. Dass akuter Handlungsbedarf besteht, mag schließlich kaum mehr jemand in Zweifel ziehen. Unmittelbar nach dem Ende der langen Neujahrsfeiertage erteilte die russische Luftfahrtbehörde ein Verbot der Mitnahme von Flüssigkeiten selbst in kleinsten Mengen an Bord eines Flugzeugs, das zunächst bis Ende März gelten soll. Andere Neuregelungen im Antiterrorkampf werden indes dauerhaften Charakter haben. Vertreter aller Duma-Fraktionen reichten Mitte Januar drei Gesetzesinitiativen ein, die Terroristen zukünftig das Leben schwerer machen sollen. Dabei gehen die Vorschläge über die klassische Ausweitung von Vollmachten des Inlandsgeheimdienstes FSB oder Verschärfungen im Strafrecht hinaus. Auch gewöhnliche Verbraucher bekommen verstärkt Unannehmlichkeiten zu spüren. So soll beispielsweise die Möglichkeit deutlich eingeschränkt werden, Geldüberweisungen über kommerzielle Anbieter an Terminals vorzunehmen, die fast überall stehen, ohne Personaldaten zu erfassen. Die Geldeingänge aus dem Ausland auf Konten russischer Nichtregierungsorganisationen sollen dann ebenfalls einer verschärften Überprüfung unterliegen. Finden die geplanten Änderungen die nötige Mehrheit, reicht dem FSB in Zukunft ein vager Verdacht, um eine beliebige Person oder deren Wagen ohne weitere Genehmigung einer ausgiebigen Kontrolle zu unterziehen.
Über den Nutzen dieser Maßnahmen lässt sich streiten. Insbesondere lange oder gar lebenslängliche Haftstrafen für überführte Attentäter und jene, die nur als Mitläufer oder Unterstützer gelten können, dürften kaum eine abschreckende Wirkung zeigen. Jedenfalls nicht bei jihadistischen Kadern, deren Bestimmung ohnehin im Erreichen des Jenseits liegt. Diese könnten sogar noch angespornt werden, sich beizeiten in die Luft zu sprengen und damit weitere Personen zu gefährden, um nicht lebend in die Hände staatlicher Sicherheitsorgane zu geraten. Dabei hat sich gezeigt, dass Festnahmen führender Kämpfer wertvolle Dienste zur Erhebung und Auswertung von Insiderinformationen leisten. Und vor dem Hintergrund, dass beispielsweise in Tschetschenien Sicherheitskräfte sogar Männer entführen, wobei als Verdachtsmoment bereits ein islamistischer »Online-Freund« in einem sozialen Netzwerk genügt, und durch Folter Geständnisse erzwingen, verblassen etwaige Fahndungserfolge unweigerlich. In der Duma wird auf Initiative des russischen Präsidenten demnächst über eine weitere Gesetzesänderung entschieden: Direkte Angehörige von Terroristen sollen dann mit ihrem gesamten Vermögen haftbar gemacht werden.
Anhänger eines islamischen Gottesstaats jenseits des »kaukasischen Emirats« finden sich im Übrigen mittlerweile in ganz Russland. Und zwar nicht nur in muslimisch geprägten Regionen wie Tatarstan oder Baschkortostan, sondern selbst in Metropolen wie St. Petersburg. Radikale Formen des Islam gewinnen auch bei »ethnischen Russen« an Attraktivität. Für Islamexperten ist der Hinweis auf gefährliche Tendenzen mit einem wachsenden Risiko strafrechtlicher Ermittlungen verbunden, wie ein Fall in Kazan im vergangenen September zeigte. Der Mufti von Tatarstan, Ilduz Fajzow, der vor anderthalb Jahren ein Attentat nur knapp überlebt hat, spricht bereits von einer »wahhabitischen Holding«, bestehend aus in Saudi-Arabien geschulten Kadern, die sich in den islamischen Republiken zuerst in der religiösen Führung etablieren und in der Folge einen Teil des staatlichen Verwaltungsapparates auf ihre Seite ziehen.
Ute Weinmann