Das Timing ist eigentlich immer falsch. Obwohl die olympischen Spiele in einem festen Zyklus stattfinden und damit gut planbar sind. Aber es passiert eben noch so viel anderes, was keinen Aufschub duldet und seine Schatten auf das friedliche olympische Beisammensein wirft. Olympia 1980 in Moskau ging der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan voraus, was durch den Boykott westlicher Sportnationen den Glanz in der speziell für das Großereignis präparierten sowjetischen Hauptstadt erheblich verblassen ließ. Nach Sotschi hingegen kamen trotz weltweit für Empörung sorgender homosexuellenfeindlicher Gesetzgebung alle. Nur ein paar Staatsoberhäupter haben sich der Reise ans Schwarze Meer entzogen, was sicherlich nicht allein den Moralvorstellungen in russischen Politikerkreisen und dem konservativen Schub der letzten Monate geschuldet ist. Und Sportfans aus aller Welt machten sich eher rar, anstatt sich vor Ort ein Bild zu machen von den russischen Verhältnissen oder gar ihre Solidarität mit diskriminierten Homosexuellen oder wenigstens lokalen Umweltschützern zum Ausdruck zu bringen.
Spielverderber fanden sich dieses Mal allerdings nicht allein im Westen. Vielmehr hat der eigenwillige ukrainische Nachbar für unwillkommene Ablenkung gesorgt. Mindestens ein klein wenig haben die Ereignisse in der Ukraine der Olympiade die Schau gestohlen. Und wie soll der russische Präsident Wladimir Putin seine Spiele in vollem Ausmass auskosten, wo ihn sein schwächelnder Amtskollege Viktor Janukowitsch mit seinen hausgemachten Problemen konfrontiert? Nach der Eskalation auf Kiews Straßen und seiner drohenden Entmachtung soll Janukowitsch bei seinem informellen Vorgesetzten gar um Asyl angefragt und noch vor Ende der Spiele um eine Audienz in Sotschi gebeten haben.
Zu dem Zeitpunkt hatten bereits knapp die Hälfte der 43 ukrainischen Sportler und Sportlerinnen die Olympiade verlassen. Die erste war Slalomläuferin Bogdana Matsetskaja, die damit ihre Achtung vor den Protestierenden auf dem Kiewer Maidan zu Ausdruck brachte. Im MOK, dem Internationalen Olympischen Komitee, hat man für so viel politisches Engagement kein Verständnis. Ukrainische Olympiateilnehmer baten darum, angesichts der Dutzenden Toten in der Ukraine mit Trauerflor antreten zu dürfen, das sei ihnen jedoch versagt worden. Allerdings dementierte das MOK, sich jemals in dieser Hinsicht ablehnend geäußert zu haben.
Sportlich gesehen liefen die Spiele alles andere als optimal, dennoch war Russland kurz vor Ende im Medaillenspiegel immerhin schon auf Platz zwei vorgerückt. Nur die Norweger lagen zu dem Zeitpunkt noch vorn. Die aber hatten wenigstens im Eishockey gegen die russische Mannschaft haushoch verloren. Damit sorgten die russischen Spieler allerdings für ihren letzten Sieg auf dem Eis, denn nach ihrer folgenden Niederlage gegen die finnische Nationalmannschaft durften sie nicht einmal mehr um Bronze kämpfen. Und das in der einstigen sowjetischen Paradedisziplin und trotz der immensen Erwartungen von Fans bis hinauf in die politische Führung. Das war nicht einmal mehr eine Planuntererfüllung, sondern kommt einer nationalen Katastrophe gleich. Kenner der Szene waren von Anfang an skeptisch, denn das Zusammenspiel in der russischen Mannschaft wollte einfach nicht klappen. Und glaubt man den Aussagen eines der Berichterstatters der russischen Tageszeitung „Kommersant“ redeten die Spieler nicht einmal beim Abendessen miteinander.
In Sotschi hätte ein Wunder passieren sollen, was zwar irgendwie dem russischen Zeitgeist entspricht, aber an Zuverlässigkeit bekanntermassen allen rationalen Gesetzen des Sports zuwiderläuft. Besser gesagt gleich zwei Wunder. Die andere große Hoffnung bei den olympischen Heimspielen, nämlich der 33-jährige Spitzeneiskunstläufer Jewgenij Pljuschtschenko, musste aus gesundheitlichen Gründen seine Teilnahme im Einzelwettbewerb absagen, nachdem er beim erstmals ausgetragenen Mannschaftswettbewerb den Sieg davontrug. Dass er trotz bekannter Rückenprobleme und relativ schwachen Leistungen überhaupt angetreten war, machte so manchen Beobachter bereits im Vorfeld misstrauisch und ließ ein abgekartetes Spiel der Sportfunktionäre vermuten. Die Karriere von „unserem Zhenja“, dem fast unbesiegbaren Nationalhelden, sollte um jeden Preis in Sotschi vergoldet enden, am liebsten sogar mit Doppelgold. Die Ehre der Nation rettete Adelina Sotnikowa, die erstmals in der olympischen Geschichte des Dameneiskunstlauf eine Goldmedaille für Russland holte. Doch ihre knappe Überlegenheit vor der Koreanerin Kim Yu-Na sorgte für zahlreiche Spekulationen ob der Rechtmässigkeit dieses Sieges. Für den erhofften Goldregen und den ersten Platz Russlands in der Endmedaillenwertung haben zu einem wesentlichen Teil statt der russischen Superstars importierte Sportler gesorgt. Allen voran der südkoreanische Short-Treck-Läufer Viktor An.
An wird nun gefeiert, während die ausländischen Bauarbeiter, ohne die keine einzige olympische Sportstätte in Sotschi existieren würde, abgeschoben wurden oder häufig ohne Lohn das Weite suchen mussten. Semjon Simonow, Koordinator des Memorial-Netzwerks für Migration und Recht in Sotschi, hat sich die vergangenen anderthalb Jahre für deren Belange eingesetzt und ist deshalb bei der lokalen Polizei kein Unbekannter. Während der Spiele versuchte ihn die Kriminalpolizei zweimal festzunehmen. Beide Male scheiterten es an seiner Begleitung durch ausländische Journalisten oder Botschaftsangehörige. Beim dritten Mal jedoch zerrten ihn Uniformierte gemeinsam mit Aktivistinnen der Punkband Pussy Riot in einen uralten Polizeiwagen und verhörten alle als Zeugen in einem Diebstahlsdelikt, das, wie sich später herausstellte, nicht einmal zur Anzeige gebracht worden war. „Nach meiner Weigerung mich vernehmen zu lassen wurde ich mit Gewalt zum Ermittler geschleppt“, sagte er der Jungle World. „Mir tut mein Arm immer noch weh.“ Gegen den Chef jener Polizeiwache hatte er bereits im September eine Beschwerde eingelegt wegen unmenschlicher Haftbedingungen für Männer aus Usbekistan, die unrechtmässig und ohne Verpflegung in der viel zu engen Zelle untergebracht worden waren.
Nadezhda Tolokonnikowa und Maria Aljochina von Pussy Riot waren eigentlich nach Sotschi gereist, um dort einen neuen Videoclip aufzunehmen. Bei den Aufnahmen wurden sie von russischen Kosaken angegriffen. Sehr effektvoll unter schmerzhaften Peitschenhieben singen die Frauen darin „Putin bringt dir bei, deine Heimat zu lieben“. Sotschi hielt neben Siegen und Niederlagen eben auch aufklärerische Momente parat, denn so erhielt die internationale Öffentlichkeit endlich Kenntnis von einer nationalen Besonderheit, die in so mancher Region des Landes ganz legal für Sicherheit und Ordnung sorgt: nämlich von den russischen Kosaken.
Trotzdem stellt sich die Frage, ob sich das ganze Spektakel überhaupt gelohnt hat. Wladimir Resin, Dumaabgeordneter, Berater des Moskauer Bürgermeisters, Ex-Chef der Moskauer Baubehörde und 1980 an den Bauarbeiten für Olympia beteiligt, lobte jüngst die Qualität der Sporteinrichtungen in Sotschi über allen Klee. Kein Zweifel bestehe daran, dass die großartige Infrastruktur auch nach den Spielen auf ausreichenden Bedarf treffe. Den Vorwürfen, wonach die Bauten in Sotschi überteuert seien, kann er nichts abgewinnen. Schließlich gingen von den 37,5 Milliarden Euro keine 4,5 Milliarden direkt in den Bau olympischer Objekte. „Auf den Bauplätzen in Moskau wird eine größere Summe ausgegeben, und zwar jährlich und nicht innerhalb von fünf Jahren.“ Aus der Perspektive betrachtet sind die Spiele in Sotschi also fast schon eine echte Billignummer.
Ute Weinmann