Während in der Ukraine eine neue Regierung unter Beteiligung von Rechten und Nationalisten gebildet wird, versucht die russische Regierung, die instabile Lage für ihre Großmachtinteressen zu nutzen.
Die Ukraine bietet derzeit eine Projektionsfläche für jeden Geschmack, in der Fülle an Informationen und Ereignissen finden sich scheinbar Belege für jede noch so abenteuerliche Theorie. Spätestens wenn Großmachtgelüste sich in der Vorbereitung sogenannter Friedensmissionen äußern, wäre es angebracht, einen Moment innezuhalten. Stellenweise wird man in Russland den Eindruck nicht los, der Sommer 1914 (siehe auch Seite 13) stünde vor der Tür, allerdings mit der absoluten Gewissheit, den Sieg bereits in der Tasche zu haben. Symbolkraft und Wahrheitsgehalt driften bisweilen so weit auseinander, dass kaum mehr Überschneidungspunkte zu erkennen sind.
Krim, Frühjahr 2014. Seit Ende vergangener Woche tummeln sich auf der Halbinsel zahlreiche uniformierte und bewaffnete Einheiten, die sich mangels äußerer Kennzeichnungen nicht eindeutig zuordnen lassen, wenngleich sich der Verdacht erhärtet, es könnte sich um russisches Militär handeln. Beunruhigende Meldungen sprachen von einer bevorstehenden Blockade des Flughafens in Sewastopol und der Übernahme der Kontrolle von Telefon- und Internetverbindungen. Die der ukrainischen Übergangsregierung in Kiew loyal gegenüberstehende tatarische Minderheit gab zu verstehen, dass sie im Notfall Waffen parat halte. Vor diesem Hintergrund wandte sich der neue prorussische Ministerpräsident der autonomen ukrainischen Republik Krim, Sergej Aksjonow, an Russland mit der Bitte um Unterstützung zur Friedenssicherung. Am Abend des 1.März brachte der russische Präsident Wladimir Putin im Föderationsrat einen Antrag ein zur Stationierung eines beschränkten Truppenkontingents auf ukrainischem Territorium »bis zur Stabilisierung der politischen Lage«. Das russische Oberhaus brauchte nur eine Stunde, um das Ansinnen des Präsidenten einstimmig abzusegnen.
Internationale Reaktionen folgten prompt. Die USA, Großbritannien, Kanada und Litauen zogen ihre Botschafter zu Beratungen ab, US-Präsident Barack Obama warnte Russland vor einer Invasion und drohte mit Isolation, die Vorbereitungen für das im Juni in Sotschi geplante Gipfeltreffen der G8 wurden ausgesetzt und der Generalsekretär der Nato, Anders Fogh Rasmussen, wertete Russlands Vorgehen als Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Europa. Die ukrainische Regierung veranlasste derweil die Mobilisierung ihrer Streitkräfte. Bei der russischen Führung machte alldies wenig Eindruck. Sie beklagte in einer Erklärung das »provokative, verbrecherische Vorgehen ultranationalistischer Elemente«, die von der Übergangsregierung in Kiew befördert würden. Als ob es ausgerechnet auf der Krim gälte, den Faschismus in neuer Auflage zu bekämpfen.
Dabei braucht es weder eine Militärinvasion in der Ukraine noch muss Russland überhaupt eine ernstzunehmende Kriegsabsicht unterstellt werden, damit die jüngsten Versuche Putins, seine Macht zu sichern beziehungsweise auszubauen, ihre volle Wirkung entfalten. Noch ist lediglich von einem Informationskrieg die Rede. Dieser jedoch wird mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geführt, um die russische Bevölkerung mit patriotischem Elan auf Linie zu bringen. Russlands außenpolitische Drohgebärden belasten die internationalen Beziehungen stark und haben bereits zu einer rasanten Beschleunigung der Abwertung des Rubels geführt.
Es war zu erwarten, dass die monatelangen Proteste auf dem Kiewer Maidan Auswirkungen auf Russlands innere Verfasstheit zeigen. Hunderte demonstrierende russische Kriegsgegner wurden am Sonntag in Moskau und St. Petersburg festgenommen, in der Woche zuvor traf es oppositionelle Kritiker des harten Urteils gegen die wegen Massenunruhen im Bolotnaja-Fall Angeklagten. Die Festnahmen geben nur einen kleinen Ausschnitt des repressiven Umgangs des Staatsapparats mit jenen wieder, die sich dem Putinschen Korpsgeist verweigern. Ein pikantes Detail am Rande: In St. Petersburg ging die Polizei gegen Kriegsgegner quasi unter Anleitung von Witalij Milonow vor, dem Autor des lokalen homophoben Gesetzes.
Russland mag nach außen einen stabilen Eindruck machen, aber von der einstigen »souveränen Demokratie« ist nicht mehr viel übrig und für Putin wird es immer schwieriger, im eigenen Land das Image des unangefochtenen starken Mannes aufrechtzuerhalten. Zudem stehen Russland auch ohne die selbstverschuldete politische Isolation schwere Zeiten bevor. Wirtschaftsexperten warnen schon lange vor einem Verfall des Rubels und einer Verschärfung ökonomischer Probleme, nun kündigt sich noch dazu eine Kapitalflucht an. Der russische Aktienmarkt verbuchte am Montag Einbußen von über zehn Prozent. Als Putin am Dienstagmorgen das vor knapp einer Woche anberaumte russische Militärmanöver an der ukrainischen Grenze beenden ließ, stabilisierte sich der Aktienindex wieder etwas.
Zur Beruhigung der Situation in der Ukraine trägt Russlands militärische Drohung wenig bei, vielmehr ist sie auf die Schwächung der Kiewer Zentralmacht ausgelegt. Vom sich dadurch verschlimmernden Machtvakuum in der Ukraine könnten ukrainische Nationalisten unter Umständen weitaus mehr profitieren, als dies ohnehin schon der Fall ist. Die frisch ernannte Übergangsregierung unter Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk ist in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Die gestürzten Machthaber unter dem ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, der sich nach einem Auftritt auf einer Pressekonferenz im russischen Rostow gänzlich ins Abseits manövriert hat, hinterließen in der ukrainischen Staatskasse ein riesiges Loch und die vorhandenen Mittel reichen kaum zur Deckung der laufenden Haushaltskosten. Während Janukowitschs Amtszeit verdoppelten sich die Auslandsschulden der Ukraine auf 75 Milliarden US-Dollar, während die Goldreserven von 37 Milliarden auf 15 Milliarden US-Dollar zusammenschmolzen. Harsche Kürzungen in allen staatlich geförderten Bereichen werden die Protestierenden vom Maidan noch auf eine harte Probe stellen.
Im Hinblick auf die Anzahl politischer Ämter hat Julia Timoschenkos Vaterlandspartei bislang am meisten profitiert. Weder Vitalij Klitschko, der für das Präsidentenamt kandidieren will, noch Oleh Tjahnibok, der Vorsitzende der nationalistischen Partei Swoboda, machten Ansprüche auf ein Regierungsamt geltend. Die Vaterlandspartei besetzt gleich mehrere Schlüsselpositionen: Alexander Turtschinow, ein enger Vertrauter Timoschenkos, wurde Präsident, Jazenjuk Ministerpräsident und Arsen Awakow Innenminister. Mitglieder von Swoboda und andere der ukrainischen Rechten nahestehende Politiker sind allerdings ebenfalls stark vertreten, allen voran durch den stellvertretenden Minister für Wirtschaftsfragen und berüchtigten Scharfmacher Swobodas, Alexander Sytsch. Auch das Bildungs-, Landwirtschafts- und Umweltministerium gingen an Swoboda, zudem stellen die Rechten mit Oleh Machnitskij den Generalstaatsanwalt. Der Mitbegründer der Vorgängerin Swobodas, der Sozialnationalen Partei, und Kommandant des Maidan, Andrej Parubij, erhielt den Posten des Sekretärs im Sicherheits- und Verteidigungsrat, von dem aus er seinem Protegé Dmitrij Jarosch vom paramilitärischen rechten Zusammenschluss »Rechter Sektor« den Rücken stärkt.
Um Ausgleich bemüht, beugten sich die Anführer der parlamentarischen Opposition bei der Regierungsbildung einerseits dem Druck der militanten Autoritäten des Maidan. Andererseits war Swoboda am Verhandlungsprozess mit der Europäischen Union von Anfang an beteiligt und somit ist ihre Beteiligung nur konsequent. Jarosch spielt sich derweil mit Aufrufen zur Koordinierung der ukrainischen Streit- und Sicherheitskräfte mit dem »Rechten Sektor« als eine Art militärischer Oberbefehlshaber auf und soll angeblich Verhandlungen über einen Stellvertreterposten im Inlandsgeheimdienst SBU führen. Zwar laufen mittlerweile Ermittlungen gegen einen der Kader des »Rechten Sektors« wegen vorsätzlicher Körperverletzung, im Wesentlichen haben sich die Nationalisten in dem instabilen Machtgefüge jedoch bequem eingerichtet und nehmen sich weitgehende Freiheiten heraus. Einige Mitglieder wurden gar in russischem Grenzgebiet gesichtet. Außerdem sind bereits mehrere Vergeltungsakte gegen linke und stalinistische Gruppen bekannt geworden, darunter auch gegen die Kommunistische Partei KPU, den Juniorpartner von Janukowitschs Partei der Regionen. Das schürt auch in der antifaschistischen Szene Ängste vor systematischer Verfolgung. Einen Dämpfer erhielt Jarosch lediglich nach der Veröffentlichung eines Appells an den tschetschenischen Warlord Doku Umarow unter seinem Namen, dessen Echtheit er allerdings später bestritt.
Mittlerweile fand in der ganzen Ukraine ein Wechsel der Regionalverwaltungen statt. Um etwaigen separatistischen Bestrebungen im Osten zu begegnen, ernannte die Kiewer Regierung in den Gebieten Donezk und Dnepropetrowsk zwei ukrainische Oligarchen zu Gouverneuren, nämlich Sergej Taruta und Igor Kolomojskij. Ein äußerst fragwürdiger Schachzug, mit dem die Kiewer Regierung versucht, sich deren Machtpotential zu eigen zu machen, an dem es ihr selbst im Osten eindeutig mangelt. In Lwiw bleibt Swoboda an der Macht, doch ausgerechnet aus der nationalistischen Hochburg waren in den vergangenen Tagen wesentlich versöhnlichere Töne zu hören als gewohnt.
Aber auch die ukrainische Linke blieb nicht ganz untätig. Zumindest das antifaschistische Lager nutzte die unübersichtliche Lage zur Besetzung des Bildungsministeriums und der Migrationsbehörde in Kiew. Dort lagern unter anderem Dokumente über illegale Abschiebepraktiken der Regierung Janukowitsch, die nun zur späteren Aufarbeitung unter Bewachung stehen.
Ute Weinmann