Beim Konflikt um die Vorherrschaft auf der Krim und in der Ukraine werden von der russischen Regierung, aber auch von einigen ukrainischen Akteuren alle nationalistischen Register gezogen.
Auf der Krim geht es nun ums Ganze. Werbetafeln in der Hafenstadt Sewastopol, die kurzerhand Russisch zur Amtssprache erhoben hat, zeigen eine rote Krim mit riesigem Hakenkreuz vor schwarzem Hintergrund neben einer Krim in den russischen Farben Weiß-Blau-Rot. Entweder – oder. Als stünde eine faschistische Invasion bevor, gegen die die Bevölkerung ihre Stimme erheben darf. Zur Beschleunigung der Konfliktdynamik auf der Halbinsel verlegte die prorussische Regionalregierung das geplante Referendum über den zukünftigen Status der Krim von Ende März um zwei Wochen vor. Bereits am kommenden Sonntag sollen die Einwohner der autonomen Republik entscheiden, ob sie einer Angliederung an die Russische Föderation zustimmen oder die Autonomie der Krim auf Grundlage der Verfassung von 1992 festschreiben. Letzteres würde bedeuten, dass das Verhältnis zur Restukraine in Zukunft in gesonderten Verträgen geregelt werden müsste. Umfragen zufolge befürwortet eine Mehrheit die zweite Option, aber das Parlament und die lokale Regierung unter Ministerpräsident Sergej Aksjonow machen keinen Hehl aus ihrer Präferenz: Sie werben für einen Anschluss an den östlichen Nachbarn.
Dabei locken sie ungeniert mit Subventionen und einer Lohnerhöhung für Staatsbedienstete um das Zweieinhalbfache oder gar Vierfache, die Russland in Aussicht gestellt habe. Dem Parlament der Krim bleibe nur noch, die entsprechenden Dokumente vorzubereiten, so dass noch im März mit einer Verdoppelung des Haushaltvolumens gerechnet werden könne, so der moskautreue Parlamentssprecher Wladimir Konstantinow. Bei Lehrern, Ärzten und pensionierten Armeeangehörigen trifft er damit den richtigen Ton: In Aussicht gestellte finanzielle Verbesserungen wirken überzeugender als leere Parolen von russischer Brüderlichkeit. Außerdem drängt sich der Eindruck auf, dass nicht so sehr der Wunsch nach einer Vereinigung mit Russland die prorussischen Kundgebungen antreibt, sondern eher die Sehnsucht nach der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit. Für die Bevölkerung der Krim könnte es gegebenenfalls ein böses Erwachen geben, nachdem die erste Freude über Lohnerhöhungen verflogen ist.
Angesichts der kurzen Vorbereitungszeit für das Referendum ist mit einer ernsthaften Wahlbeobachtung gar nicht erst zu rechnen, zumal Beobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Uno der Zutritt zur Krim bislang verweigert wird. Die Krim gerät vor dem geplanten Referendum mehr und mehr in eine Isolation von der Außenwelt. Der Verkauf von Zugfahrkarten auf die Halbinsel ist vorübergehend eingestellt, der Flugverkehr kam ins Stocken. Russisches Militär kontrolliert den Verkehr über den Landweg. Obwohl die russische Regierung nach wie vor bestreitet, dass außer den mit der Ukraine vertraglich festgelegten Kontingenten weitere Einheiten auf der Krim präsent sind, gibt es zahlreiche gegenteilige Hinweise. Angehörige der russischen Streitkräfte halten sich mit Provokationen nicht zurück, einschließlich der Stürmung einer ukrainischen Raketenbasis auf der Krim. Derweil entließ die Kiewer Zentralregierung den Polizeichef der Republik Krim, zur Unterbindung des Referendums fehlt ihr allerdings jegliche Handhabe.
Nach ersten leichten Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland befürwortet Bundeskanzlerin Angela Merkel weitere, sollte Russland nicht einlenken und sich zu diplomatischen Gesprächen bereit erklären. Sowohl die EU als auch die USA stufen die Eskalationstaktik Russlands gegen die Ukraine als Verstoß gegen internationale Rechtsnormen ein, insbesondere gegen das Budapester Memorandum von 1994, das die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität der Ukraine zu achten. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin besitzen diese jedoch keine Rechtsgültigkeit mehr. Er argumentiert, dass durch den Umsturz in Kiew ein völlig neuer Staat entstanden sei – ähnlich wie nach dem Fall des zaristischen Regimes in Russland 1917 –, dem gegenüber Russland folglich keinerlei Verpflichtungen habe.
Befürworter von gegen den Westen gerichteten Sanktionen warten in der russischen Duma schon länger auf ihre Gelegenheit. Ihre Vorschläge reichen bis hin zur Konfiszierung von Eigentum ausländischer Firmen ohne Gerichtsentscheid. Priorität hat allerdings die strafrechtliche Verfolgung russischer Staatsbürger, sollten sie sich der Solidarität mit allen im Ausland lebenden Russinnen und Russen entziehen und die Interessen des Kreml aus dem Blick verlieren. Jewgenij Frolow, Abgeordneter der Partei »Einiges Russland«, sorgt sich insbesondere um Berichterstattung, die »falsche antirussische Informationen« enthalte, die »extremistischen und separatistischen Kräften in die Hände« spiele, vor allem wenn es um die Darstellung von Ereignissen im Ausland gehe. Im Klartext heißt das: Sollte ein Redakteur überführt werden, angeblich die Staatsinteressen gefährdendes Material zu verbreiten – was im russischen Justizwesen heutzutage schnell passieren kann –, dann solle dies als Kapitalverbrechen gelten. Vor diesem Hintergrund sind die 200 Euro Bußgeld, die Gerichte in Moskau und St. Petersburg derzeit gegen demonstrierende Gegnerinnen und Gegner einer russischen Invasion in der Ukraine verhängen, selbst wenn deren monatliche Rente deutlich unter diesem Betrag liegt, ein Klacks.
Die Selbstverständlichkeit, mit der in Russland unter dem Motto »brüderliche Hilfeleistung« auf der Krim zur Veränderung der Landkarte aufgerufen wird, ermuntert dazu, weitere Gedankenexperimente anzustellen, auch über europäische Grenzziehungen hinaus. Allen voran ist dabei das russische Staatsfernsehen. Dort finden bereits ernsthafte Überlegungen ihren Platz, etwa den Verkauf von Alaska an die USA im Jahr 1867 in Frage zu stellen. Nicht nur die Bezahlung für das rohstoffreiche Gebiet sei unrechtmäßig abgelaufen, auch kämen die USA ihren Verpflichtungen bezüglich der Wahrung der »kulturellen Identität« der orthodoxen russischstämmigen Minderheit nicht nach, schließlich sei die Legalisierung homosexueller Eheschließungen in den USA damit unvereinbar. Hochkonjunktur genießen derweil auch sowjetische Feinddarstellungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, jede noch so dumpfe Instrumentalisierung ist willkommen, um die russische Bevölkerung Glauben zu machen, der faschistische Gegner stehe direkt hinter der Grenze. Und wer sich davon noch nicht überzeugen lassen will, dem wird durch Aufforderungen staatlicher Arbeitgeber nachgeholfen, sich mit Verständnis den Kundgebungen für eine »Friedensmission« in der Ukraine anzuschließen.
Dabei hat die Kiewer Zentralregierung außer der letztlich nicht umgesetzten Ankündigung, die geltende, ohnehin umstrittene Sprachgesetzgebung in der Ukraine aufzuheben, bislang keine Schritte unternommen, die auf eine Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung hindeuten. Allerdings ist es äußerst unklug, dass angesichts der zunehmenden Proteste im russisch dominierten Osten bislang kein neues Gesetz vorgelegt wurde, das die russische Sprache der ukrainischen gleichstellt. Im Übrigen wandte sich eine Reihe jüdischer Geschäftsleute, Künstler und Mitglieder jüdischer Gemeinden in einem offenen Brief an Putin. Darin warfen sie diesem, der unlängst von einem wachsenden Antisemitismus auf dem Maidan gesprochen hatte, vor, er verwechsle die Ukraine mit Russland, wo die Anzahl antisemitischer Übergriffe zugenommen habe. Außerdem fühlten sich die ukrainischen Juden, die in ihrer Mehrheit russischsprachig sind, keinesfalls sprachlich diskriminiert.
Bisweilen krude und alles andere als antifaschistische Allianzen ergeben sich auch bei Gegnern der Maidan-Proteste im Osten und Süden der Ukraine, die unter dem Motto »Russischer Frühling« mobil machen. In Odessa nahm die Miliz mit Messern und Schlagstöcken bewaffnete Kosaken fest, die angeblich zum Schutz der russischen Bevölkerung angereist waren. In Donezk stürmten Protestierende gleich mehrmals das Gebäude der Gebietsverwaltung, kurze Zeit konnte sich die Hochburg des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch gleich zweier Gouverneure rühmen: des von der Regierung in Kiew ernannten sogenannten Oligarchen Sergej Taruta und des per Abstimmung bei einer Kundgebung von Maidan-Gegnern am 1. März ins Amt gehievten Pawel Gubarew. Der 31jährige »Volksgouverneur« soll, so behaupten allerdings zweifelhafte Quellen, seine politische Karriere bei der ukrainischen Zweigstelle der paramilitärischen »Russischen nationalen Einheit« begonnen haben, aus der die meisten der heute in Russland aktiven rechtsextremen Gruppen einst hervorgegangen sind. Sicher jedoch ist, dass er sich in der prosowjetischen und ebenfalls von Antisemitismus und sonstigen wenig progressiven Ideen geleiteten »Progressiven Sozialistischen Partei« (PSPU) engagierte. Mittlerweile läuft gegen ihn ein Strafverfahren.
Im gesamten Osten der Ukraine ist die Lage weiterhin instabil. An vielen Orten wird die Forderung nach einer Auflösung des Zentralstaats zugunsten einer Föderation laut. In Charkow, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, die direkt an der Grenze zu Russland gelegen ist, forderten Teilnehmer einer prorussischen Kundgebung neben einem Referendum zu dieser Frage einen Verzicht auf Finanzhilfen und Kredite der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF) – nicht zuletzt aus Furcht vor harten langfristigen Konsequenzen. Die Kiewer Regierung kündigte an, im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen die strengen Vorgaben des IWF in die Tat umzusetzen, was eine erhebliche Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung nach sich ziehen würde, allein schon durch die Kappung der Gassubventionen für Privathaushalte. Gleichzeitig droht der russische Konzern Gazprom angesichts steigender ukrainischer Schulden mit der Kürzung der Rabatte auf den Gaspreis.
Die Kiewer Regierung dürfte der Kontrolle durch den Maidan bald überdrüssig sein. Dort finden weiterhin Versammlungen statt, der Platz wurde nicht geräumt. Aber ein Programm für die nahe Zukunft gibt es nicht. Dmitrij Jarosch vom »Rechten Sektor« meldete schon einmal seine Absicht an, bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren, in Umfragen liegt allerdings der Schokoladen-Oligarch Pjotr Poroschenko vorn.
Ute Weinmann