Während der russische Staat die Krim »heimholt«, sorgen die ukrainischen Rechtsextremen für weitere negative Schlagzeilen.
Nach russischem Recht gehört die Krim seit Ende vergangener Woche zu Russland. Am selben Tag unterzeichnete die Ukraine, geschrumpft um eine sonnige Halbinsel und zwei Millionen Staatsbürger, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union (EU), das im Herbst zum Auslöser lang anhaltender Proteste geraten war und schließlich zum Machtwechsel in Kiew geführt hatte. Bislang stand allerdings nur der politische Teil des Abkommens zur Debatte, in dem die Rahmenbedingungen für die europäische Integration der Ukraine festgehalten sind. Erst nach den Präsidentschaftswahlen, die voraussichtlich Ende Mai stattfinden werden, sollen konkrete Vereinbarungen zu Wirtschaft und Handel folgen. Allerdings zeigt die EU Bereitschaft zu Zugeständnissen wie der Abschaffung von Einfuhrzöllen für ukrainische Waren noch vor weiteren gegenseitigen Vereinbarungen, und der ukrainische Außenminister Andrij Deschtyzja prognostiziert voller Optimismus, dass die Ukraine bereits zum Jahresende alle Voraussetzungen für den visafreien Reiseverkehr mit der EU erfüllen könnte.
Während in Moskau anlässlich der von so manchem euphorisch gestimmten politischen Kommentator als erster Siegeszug Russlands seit 1945 gefeierten »Heimholung« der Krim Sektkorken und Feuerwerkskörper knallten, war die Stimmung in Kiew am Wochenende eher ernüchtert. Dazu gibt es allen Grund. Die EU wird der Ukraine in den kommenden Jahren keineswegs blühende Landschaften bescheren. Vielmehr steht dem größten rein europäischen Flächenstaat eine beispiellose Umgestaltung des gesamten staatlichen Verwaltungsapparats bevor und ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um bis zu zehn Prozent ist mehr als wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund gewinnt jede noch so kleine Erfolgsmeldung wie die termingerechte Auszahlung der Renten an Bedeutung.
Viel vorzuweisen hat die neue Regierung noch nicht und so manche Entscheidung deutet auf Schwachstellen der Koordination im Staatsapparat hin. Um ihre Absicht zu einer ernsthaften Korruptionsbekämpfung unter Beweis zu stellen, müsste die Regierung nicht nur für ausgiebige Ermittlungen sorgen, sondern auch für ein geschlossenes Auftreten. Indessen verkündete Innenminister Arsen Awakow in der vergangenen Woche die Festnahme des Vorstandsvorsitzenden des staatlichen Energieversorgers Naftogaz, Jewgenij Bakulin, offenbar noch bevor ein entsprechender Haftbefehl vorlag. Dies rief sofort Regierungskritiker auf den Plan, die darin ein ähnlich unüberlegtes Vorgehen gegenüber missliebigen Konkurrenten sahen wie seinerzeit während der Amtszeit Julia Timoschenkos als Ministerpräsidentin.
Missfallen erregt die Regierung auch auf dem Maidan. Dort finden nach wie vor sonntägliche Vollversammlungen statt, nun unter dem Motto »Einheit der Ukraine«. Doch wo die Regierung sich zu Beginn noch den demokratischen Anforderungen der Straße stellte und auf dem Maidan Präsenz zeigte, ignorierten dieses Mal sowohl Präsident Alexander Turtschinow als auch Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk die Bitte, Rechenschaft über ihre Tätigkeit abzulegen. Erschienen waren lediglich der Außenminister, Kulturminister Jewgenij Nyschtschuk, der Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU, Walentin Naliwajtschenko, und Andrej Parubij, der Sekretär des Sicherheitsrats.
Die Enttäuschung war groß, zumal es in der jüngsten Zeit wiederholt Anläufe zur Räumung des Maidan gegeben hatte. Allerdings sind nach wie vor selbstorganisierte Hundertschaften im Einsatz, die sich zwar untereinander bekriegen, aber auch dafür sorgen, dass staatliche Ordnungskräfte den Platz nicht antasten. Die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens änderte nichts an der Tagesordnung des bunt zusammengewürfelten Maidan, denn im Vordergrund – das artikulierten dessen Vertreter am Sonntag zum wiederholten Mal – stehen nach wie vor die Forderungen nach Korruptionsbekämpfung und der konsequenten Durchleuchtung von Politikern und Staatsbeamten hinsichtlich schwerwiegender Vergehen, um ihnen den Zugang zu Ämtern in Zukunft zu verwehren. Auch die Krim-Frage beschäftigt viele Protestierende, insbesondere die Lage von ukrainischen Militärangehörigen und deren Familien. Sie sorgte außerdem für die erste Abdankung eines Kabinettsmitglieds seit dem Machtwechsel in Kiew: Verteidigungsminister Ihor Tenjuch trat zurück, nachdem ihm Unfähigkeit im Zusammenhang mit der Krim-Krise vorgeworfen worden war.
Anlass zu Spekulationen geben derweil die Todesumstände eines der bekanntesten Repräsentanten des paramilitärischen »Rechten Sektors« und Koordinators in der Westukraine, Alexander Musytschko mit dem Spitznamen Weißer Sascha. Nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums wollten Polizisten der Sondereinheit Sokol Musytschko am Montagabend in einem Café in Riwne verhaften, dieser floh durch ein Fenster und eröffnete das Feuer, worauf die Polizisten zurückschossen und ihn töteten. Nach einer anderen Version wurde Musytschko in dem Café oder in dessen Nähe von Unbekannten zunächst gekidnappt und dann erschossen. Russische Behörden hatten Musytschko wegen seiner Beteiligung am ersten Tschetschenien-Krieg auf Seiten der Separatisten, genauer gesagt wegen des Verdachts der Folterung russischer Militärangehöriger, kürzlich zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Vor seinem Tod machte Musytschko ein Schreiben öffentlich, in dem er den SBU beschuldigte, er plane, ihn zu töten oder russischen Sondereinheiten zu übergeben.
Ganz unbegründet war diese Befürchtung wohl nicht. Nachdem ein Moskauer Gericht gegen Musytschko und den Chef des »Rechten Sektors«, Dmitrij Jarosch, vor knapp zwei Wochen Haftbefehle hatte ausstellen lassen, wurden in der Duma erste Forderungen laut, die beiden »Terroristen« zu liquidieren. Erst vor wenigen Tagen bekräftigte der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow im russischen Staatsfernsehen seine Absicht, Jarosch ein Ticket ins Jenseits zu besorgen, sollte er einer gesetzlichen Strafe entgehen. Alexander Briginets, Abgeordneter der Vaterlandspartei, stellte die gescheiterte Festnahme in einen anderen kriminellen Kontext, indem er die Vermutung anstellte, zur Schießerei sei es während einer Polizeisonderoperation in einer illegalen Tabakfabrik des vormaligen Innenministers Witalij Sachartschenko gekommen, die unter der Bewachung von Musytschko stand.
Fest steht, dass die ukrainische Rechte vermehrt für Negativschlagzeilen sorgt. So sollen für den Mord an drei Verkehrspolizisten Anfang März Angehörige der Neonazigruppierung »Weißer Hammer« verantwortlich sein. Einer von deren Anführern sitzt bereits in Untersuchungshaft. Zu diesem Zeitpunkt zeigte die Polizei kaum Präsenz. Nach den heftigen gewalttätigen Auseinandersetzungen Ende Februar, bei denen über 100 Menschen ums Leben gekommen waren, patrouillierten Hundertschaften des Maidan Kiews Straßen. Allerdings sollten sie die Sicherheitsfunktion wieder der Polizei überlassen.
Alexander Musytschko gehörte der Organisation Ukrainische Nationalversammlung – Ukrainische Volksselbstverteidigung (UNA-UNSO) an, die wie der »Weiße Hammer« Teil des »Rechten Sektors« ist und gemeinsam mit dem Tryzub, dem Dmitrij Jarosch entstammt, den organisatorischen Kern der militarisierten Hundertschaften des »Rechten Sektors« bildet. Auf deren Grundlage entsteht nun auch eine politische Vertretung. Am Samstag fand der Gründungsparteitag des »Rechten Sektors« statt, der bereits im Januar begann, politische Ansprüche geltend zu machen und immer häufiger in Konkurrenz zur Swoboda-Partei auftritt. Doch auch diese geriet in die Kritik. Nachdem einer ihrer Abgeordneten, Igor Miroschnitschenko, mit weiteren Swoboda-Anhängern den Chef der staatlichen Fernseh- und Rundfunkanstalt NTKU, Alexander Pantelejmonow, gewaltsam attackiert und zur Kündigung gezwungen hatten, forderte Vitali Klitschko die Swoboda-Fraktion auf, ihre Mandate niederzulegen.
Derweil gehen die Proteste im Osten und Süden der Ukraine weiter. An Kundgebungen in Odessa beteiligte sich unter anderem ein bekannter Neonazi aus St. Petersburg. In Donezk und Charkow forderten am Wochenende mehrere Tausend Menschen in ihren Regionen Referenden für eine Föderalisierung der Ukraine. In Kiew schürt dies Befürchtungen, Russland könne sich dadurch ermuntert fühlen, den Osten der Ukraine an sich zu binden; dementsprechend hart greifen die Sicherheitsdienste durch. Noch vor der jüngsten Kundgebung nahm der SBU den Anführer der sogenannten Volksverteidigung Donbass, Michail Tschumatschenko, fest. Gegen ihn besteht der Verdacht, er habe vorgehabt, die Kundgebungsteilnehmer zur Besetzung der lokalen Verwaltung aufzurufen und sich selbst zum Volksgouverneur zu ernennen. Weitere Festnahmen erfolgten in Dnepropetrowsk.
Ähnliche Szenarien unter aktiver Beteiligung aus Russland angereister Kader erwarte die Regierung in acht Regionen, sagte Andrej Parubij am Sonntag auf dem Maidan in Kiew. Sollten sie Erfolg haben, könnte Russland dies zum Anlass für eine militärische Invasion nehmen. In Zukunft sollen die Polizei und die im Aufbau befindliche Nationalgarde dazu befähigt werden, an Ort und Stelle einzugreifen. Gewaltsame Konflikte sind demnach programmiert. Russland überlässt es derweil Hardlinern wie dem rechten Populisten Wladimir Schirinowski, eine weitere Teilung der Ukraine zumindest verbal voranzutreiben.
Ute Weinmann