Separatisten hinter Sandsäcken

Für den Anschluss an Russland gibt es in der Ostukraine keine Mehrheit. Doch ört­liche Oligarchen nutzen die Chance, um die Regierung in Kiew unter Druck zu setzen.

Im Osten der Ukraine hält ein politisches Vokabular in den Sprachgebrauch Einzug, das unlängst noch einer anderen historischen Epoche anzugehören schien. Sogenannte Volksrepubliken schossen dort in der vergangenen Woche wie Pilze aus dem Boden. Separatisten nennt die Kiewer Zentralregierung die Anhänger der improvisierten neuen Staatsgebilde, die zahlreiche Verwaltungsgebäude besetzt halten, darunter auch lokale Niederlassungen des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU.

Sie stützen sich auf russische Symbolik, über das weitere Vorgehen besteht indes keine Einigkeit. Einen Beitritt zu Russland wünschen sich die einen, mehr Föderalismus innerhalb der Ukraine die anderen. Zentrum der Unruhen sind die an Russland angrenzenden Regionen Charkow, Lugansk und Donezk. In einigen Gegenden kam es zu Ausschreitungen zwischen proukrainischen und prorussischen Demonstranten. Inzwischen gibt es erste Tote. Anfangs gab sich die Übergangsregierung in Kiew noch halbwegs optimistisch, dem Treiben im Osten innerhalb weniger Tage Einhalt zu gebieten, doch am Wochenende weiteten sich die prorussischen Aktivitäten aus und eskalierten schließlich.

Am Samstag besetzten teils bewaffnete Gegner der Zentralregierung gleich in mehreren Städten im Donezker Gebiet lokale Behörden und Polizeidienststellen. Rundherum errichteten sie Barrikaden aus Reifen, Sandsäcken und Stacheldraht. Dabei trafen sie kaum auf Widerstand. Die Polizei solidarisierte sich teilweise sogar mit den Besetzern oder zog sich zurück. Denn seit der Festnahme mehrerer Angehöriger der Sondereinheit Berkut wegen des Vorwurfs, im Februar in Kiew auf Protestierende und Polizisten geschossen zu haben, macht sich im Polizeiapparat Unsicherheit breit. Aber auch bei den lokalen Bürokraten überwog die Zustimmung zu den Aktionen. Die Forderungen nach Verhandlungen blieben in der Hauptstadt ungehört.

In der Nacht zum Sonntag beschloss der ukrainische Sicherheitsrat die Durchführung einer Antiterroroperation mit Spezialeinheiten des SBU. Zuvor hatten ehemalige Berkut-Angehörige aus der Region die Teilnahme an Maßnahmen gegen prorussische Kräfte verweigert. Laut Plan sollte die Wiederherstellung der ukrainischen Staatshoheit im Osten in dem Eisenbahnknotenpunkt Slawjansk beginnen, doch der Einsatz schlug fehl. Der SBU verzeichnete nach bewaffneten Auseinandersetzungen einen Toten und mehrere Verletzte, aber auch auf der Gegenseite sind in dem Ort mindestens drei Menschen ums Leben gekommen, zwei davon besaßen die russische Staatsbürgerschaft. Am Montag kam es in Gorlowka, einer Stadt mit 250 000 Einwohnern und ebenfalls ein Eisenbahnknotenpunkt, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in einem Polizeigebäude, nachdem bewaffnete Männer die Polizei zur Abgabe aller Waffen aufgefordert hatten. Zuvor fand dort die Besetzung des lokalen Innenministeriums unter Anleitung eines russischen Oberstleutnants statt.

Die Regierung in Kiew bewertet die wachsenden Unruhen als von Russland gesteuerte Sabotageakte zur Destabilisierung der Ukraine, die ausführenden Organe seien im Wesentlichen Kriminelle. Zwar lässt sich eine russische Präsenz im Osten der Ukraine längst nicht so deutlich ausmachen wie auf der Krim, doch wurden in Slawjansk Funksprüche abgefangen, die auf eine russische Militäroperation hindeuten. Selbst in den südlichen Regionen, in denen es bislang verhältnismäßig ruhig zuging, vermeldet der ukrainische Sicherheitsapparat die aktive Beteiligung russischer Staatsbürger. Anfang April wurde die 23jährige Maria Koleda verhaftet, der zur Last gelegt wird, in Cherson eine prorussische Bewegung aufzubauen. Außerdem soll sie mit einer Schusswaffe drei Menschen verletzt haben. Das frühere Mitglied der Nationalbolschewistischen Partei begann ihre politische Karriere in Moskauer oppositionellen Kreisen, wechselte allerdings vor einigen Jahren auf die Gegenseite. So war sie unter anderem für Maxim Mischtschenko tätig, einen für seine Sympathien zur Neonaziszene bekannten vormaligen Duma-Abgeordneten der Partei Einiges Russland.

Die latente Drohung einer russischen Militärinvasion angesichts der Präsenz russischer Armeeeinheiten an der ukrainischen Grenze und die lauter werdenden Forderungen nach einem Militäreinsatz seitens prorussischer Aufständischer liefern der Regierung die Begründung für einen harten Kurs. Innerhalb der Ukraine bringt ihr dies allerdings immer mehr Kritik ein, während die USA dieses Vorgehen inzwischen begrüßen. Von Kompromiss- oder Verhandlungsbereitschaft ist bei der ukrainischen Übergangsregierung wenig zu spüren, außer dass sie ein Referendum über den zukünftigen Staatsaufbau der Ukraine in Aussicht stellt. Den Notstand will die Zentralregierung in den von den Unruhen betroffenen Regionen nicht ausrufen, denn dies würde die Vorbereitungen zu den für Ende Mai angesetzten Präsidentschaftswahlen gefährden.

Dabei ist fraglich, ob diese Wahlen unter den gegebenen Bedingungen überhaupt stattfinden können. Bereits jetzt ist absehbar, dass die für den 17. April anberaumten Gespräche in Genf zwischen der Ukraine, Russland, der Europäischen Union und den USA Gefahr laufen zu scheitern. Eigentlich sollte damit die Grundlage für eine politische Lösung der Krise in der Ostukraine geschaffen werden, jetzt ist viel wahrscheinlicher, dass sich die Fronten zwischen Russland und dem Westen weiter verhärten. Die Nato hatte bereits zum April jegliche Zusammenarbeit mit Russland eingestellt.

Der innerhalb weniger Wochen vollzogene Beitritt der Krim zu Russland schürt Ängste vor ähnlichen Szenarien in den Grenzgebieten. Anders als auf der Krim ist der Separatismus im Osten der Ukraine allerdings nicht weit verbreitet. In keiner der von den Unruhen erfassten Regionen existiert dafür eine Massenbasis, was sich allein schon aus der zahlenmäßig recht geringen Beteiligung an den prorussischen Protesten erschließt. Von einer Mehrheit kann jedenfalls keine Rede sein. Umfragen wie der von einer Koalition von Nichtregierungsorganisationen im Gebiet Donezk in Auftrag gegebenen zufolge spricht sich knapp über die Hälfte der dortigen Bevölkerung für eine Beibehaltung der jetzigen zentralisierten Staatsform aus, während weniger als 20 Prozent sich eine Anbindung an Russland vorstellen können. Und noch weniger befürworten die Besetzung staatlicher Verwaltungsgebäude.

Donezk, die geographische und politische Heimat des geflüchteten ehemaligen Gouverneurs und späteren ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, war nie eine Protesthochburg. Die Zeiten der Bergarbeiterstreiks gehören längst der Vergangenheit an und für die Belange der lokalen Oligarchie ließ sich die Bevölkerung immer nur zögerlich einspannen. Wollte die politische Führung Massenpräsenz auf der Straße zeigen, blieb ihr nichts anderes übrig, als aus der Staatskasse bezahlte Angestellte zu mobilisieren. Dazu brauchte es keineswegs gute Ratschläge vom russischen Nachbarn, wo eine solche Praxis – mal mit kleinen Vergünstigungen, mal ohne Gegenleistung – gang und gäbe ist. Vielmehr kommt hier der aus Sowjetzeiten stammende Erfahrungsschatz zum Einsatz. Das Thema Separatismus kam in der Vergangenheit selten ernsthaft zur Sprache.

Eine Ausnahme bildete die politische Krise zu Zeiten der orangenen Revolution. Im November 2004 fand in Sewerodonezk ein Abgeordnetenkongress als Reaktion auf die Nichtanerkennung des Wahlsieges von Janukowitsch bei den Präsidentschaftswahlen durch einige westukrainische Regionen statt. Im Falle eines Machtantritts des letztlichen Siegers Viktor Juschtschenko sah das dort vorgelegte Ultimatum die Bildung einer autonomen Südostukraine vor. In Lugansk und Donezk sollte ein Referendum über die Schaffung zweier weitgehend autonomer Republiken entscheiden, ohne jedoch die staatliche Integrität der Ukraine generell in Frage zu stellen. Das Vorhaben scheiterte bereits im Ansatz, zudem fehlte die Unterstützung durch die politische Führung um Janukowitsch.

Die treibende Kraft des sogenannten »russischen Frühlings« in Donezk dürfte weniger das Bedürfnis sein, sich in russische Obhut zu begeben, als vielmehr die nicht unbegründete Befürchtung jener, die von der unter Janukowitsch etablierten Herrschaftsordnung profitiert haben, nun die Kontrolle über die Region und ihre Staatsfinanzen zu verlieren. Zumal entsprechend der auf dem Euromaidan erhobenen Forderung nach der Entmachtung staatlicher Kader, die sich durch finanzielle Vergehen diskreditiert haben, image- und geschäftsschädigende Ermittlungen zu erwarten sind. Russische Drohgebärden kommen den alten Oligarchen insofern entgegen, als sie ihnen eine gute Ausgangsposition bei etwaigen Verhandlungen mit der Kiewer Zentralregierung über eine Strafimmunität und der Vergebung alter Sünden verschaffen.

Allerdings gehen die Interessen der ukrainischen Donbass-Eliten gelegentlich weit auseinander. Eine Teilung der Ukraine käme nicht nur für den strukturschwachen Westen des Landes einer Katastrophe gleich, sie würde auch das Ende des Imperiums des reichsten ukrainischen Oligarchen, Rinat Achmetow, in der heutigen Form bedeuten. Sein Geschäftskonzept ist allein in den Grenzen des Donezker Gebiets nicht denkbar, das zwar reich an Kohle, gleichzeitig aber auch auf Subventionen angewiesen ist. Achmetow spricht sich deutlich gegen separatistische Bestrebungen aus. Umso mehr schürt diese dagegen der in Russland und der Ukraine tätige Stahlbaron Viktor Nusenkis, der sich in der Vergangenheit auch als großzügiger Spender an die dem Moskauer Patriarchat unterstehende ukrainische orthodoxe Kirche hervorgetan hat.

Die ukrainische Regierung will nun auch die Armee im Antiterrorkampf gegen russische und prorussische Kräfte einzusetzen. Dass Russland an der Destabilisierung der Ukraine einen nicht geringen Anteil hat, steht außer Frage, doch mi­litärisch lässt sich der Konflikt in der Ostukraine ganz offensichtlich nicht lösen. Der Übergangsregierung fehlt ein Konzept mit ausgeweiteten Rechten und Garantien für den Osten.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2014/16/49690.html

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