Vorwärts in die Vergangenheit

Die russische Regierung propagiert verstärkt konservative Werte. Was diese zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen sollen, bleibt unklar, doch die Propaganda findet großen Anklang.

Ende Mai haben Russland, Weißrussland und Kasachstan den Grundstein für eine eurasische Wirtschaftsunion gelegt. Ökonomisch stellt die Vertragsunterzeichnung einen bedeutenden Schritt dar, aber dem Gemeinschaftsprojekt fehlt der ideologische Überbau. Sehr zum Bedauern vieler Sowjetnostalgiker. Im kollektiven Gedächtnis bleibt der individuellen Erinnerung oftmals nur ein Platz an Rande oder aber sie wird völlig aus dem Bewusstsein verdrängt. Dies mag teilweise erklären, weshalb die Sehnsucht nach sowjetischen Verhältnissen mancherorts zur treibenden Kraft wird. Unter kapitalistischen Vorzeichen lassen sich lediglich einzelne Komponenten der spätsowjetischen Herrschaftsordnung wiederbeleben, und auch diese nur in veränderter Form. Übrig bleibt der hässlichste Part, nämlich aus nationaler Überheblichkeit gespeister Patriotismus.

Kein Rowdytum! Freundschaft! Früher war Urlaub auf der Krim ein Privileg für brave Realsozialisten, nun ist er Pflicht für russische Patrioten

Kein Rowdytum! Freundschaft! Früher war Urlaub auf der Krim ein Privileg für brave Realsozialisten, nun ist er Pflicht für russische Patrioten (Foto: PA /ZB / Wilfried Glienke)

Die »souveräne Demokratie« nach russischem Stil hat nicht erst seit dem geschickt inszenierten Beitritt der Krim zum Rechtsnachfolger der Sowjetunion ausgedient. Seine Souveränität hat Russland ja inzwischen zur Genüge unter Beweis gestellt, so dass dies nicht mehr eigens betont werden muss. Das russische Demokratieverständnis wiederum verträgt sich zwar nur bedingt mit im Westen herrschenden politischen Normen, aber angesichts verheerender Wahlerfolge rechter Parteien in Europa verblasst auch dort der Demokratiebegriff. Nicht von ungefähr fand der russische Präsident Wladimir Putin im rechtsextremen Front National einen Fürsprecher.

Schon im Januar wurden erste Pläne der ideologischen Vordenker, die im Auftrag des Staatsoberhaupts an einer Neuausrichtung der nationalen Idee arbeiten, im Präsidialverwaltungsapparat präsentiert. Konservatismus ist das neue Schlagwort, die Propagierung traditioneller Werte soll Russland auf eine neue Entwicklungsstufe bringen. Neu ist daran eigentlich nichts. Einen Vorgeschmack bot eine ganze Reihe von Gesetzen, die seit Putins Rückkehr ins Präsidentenamt in Kraft traten, angefangen mit der homophoben Gesetzgebung.

Dabei ist es offenkundig widersprüchlich, den Konservatismus zur Entwicklungsideologie zu erheben. Bestenfalls bleibt so der Status quo erhalten, oder aber restaurative Tendenzen werden dominant. Seit die Krim russisch wurde, salopp gesagt »uns gehört«, bleibt kein Zweifel bestehen, welches Konzept die Oberhand gewinnt. Die Akzeptanz dieses Konzepts ist groß, wenngleich der auf slawische Brüderlichkeit pochende Konservatismus, wie er in der staatlichen und religiösen Selbstidentifikation zu finden ist, ohne die Ukraine an Zugkraft verliert. »Krim nasch« (die Krim ist unser) – dafür müssen zur Not die Gürtel eben enger geschnallt werden.

Jetzt gilt es, die Touristensaison auf der Krim zu retten. Verbilligte Flüge bieten nur einen bescheidenen Anreiz, denn das Preis-Leistungs-Verhältnis lässt Ägypten oder die Türkei wesentlich attraktiver erscheinen. Aber auch dafür gibt es Lösungen, wie etwa die unmissverständliche Empfehlung des Sicherheitsapparats an seine Mitarbeiter, den Urlaub nicht mehr an bei russischen Touristen beliebten Orten oder gar im Westen zu verbringen. 150 Länder stehen auf der roten Liste.

Die stellvertretende Ministerpräsidentin Olga Golodets will nun sogar die bei russischen Staatsbürgern populäre medizinische Behandlung im Ausland kontrollieren. In Russland biete das Gesundheitswesen schließlich nicht weniger gute Bedingungen. Dass der medizinische Tourismus insbesondere nach Israel und Deutschland seit Jahren boomt, hat allerdings handfeste Gründe, die auch patriotisch gesinnte und vermögende Angehörige des russischen Establishments zu einer Auslandsreise motivieren, wenn es um die eigene Gesundheit geht.

Da ist es nur konsequent, dass die Diskussion um »ausländische Agenten« neue Nahrung erhält. Anfang Juni gab der russische Präsident seine Zustimmung zur Neuauflage des Gesetzes über »ausländische Agenten«. Von nun an darf das Justizministerium eigenmächtig Einträge in das entsprechende Register vornehmen, sollten sich die betreffenden Organisationen, die nachweislich politisch tätig sind und Gelder aus dem Ausland beziehen, dazu nicht selbst durchringen. Bislang hat sich nur eine Organisation freiwillig registrieren lassen, nun hat das Justizministerium bereits fünf Organisationen eingetragen.

Antiwestliche Hysterie wird in den Medien fleißig geschürt. Zwar ist auch das keine neue Entwicklung, die Intensität hat in den vergangenen Monaten jedoch spürbar zugenommen. Während die Westukraine gerne als Hort des Faschismus vorgeführt wird, schweigen sich die staatlichen Kanäle bei Themen aus, die nicht in das vorgezeichnete Bild passen. Leichen russischer Staatsangehöriger, die als freiwillige Kämpfer für die sogenannte Donezker Volksrepublik bei den Angriffen ukrainischer Truppen starben, taugen für das derzeit propagierte Patriotismusverständnis wenig. Offiziell gibt es sie gar nicht.

Unabhängige Medien berichteten von einer Fahrt über die ukrainisch-russische Grenze mit ­31 Särgen im Gepäck, die im Auftrag der Donezker Separatistenführer erfolgte. Igor Strelkow, mit richtigem Namen Igor Girkin und für die Verteidigung der Separatistenhochburg verantwortlich, selbst ehemaliger Tschetschenien-Kämpfer und vormals für den russischen Inlandsgeheimdienst FSB tätig, fühlt sich von Russland regelrecht verraten. Er beschwerte sich kürzlich darüber, dass Russland kaum Unterstützung anbiete, obwohl doch die offizielle Rhetorik besage, dass die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine unterdrückt werde.

Nun scheint die Zeit dafür reif zu sein, sich eines zentralen missliebigen Ortes zu entledigen, der das Ansehen der ehemaligen Sowjetunion insbesondere bei Schülern in Misskredit bringt. So zumindest sehen es die Kommunistische Partei (KPRF) und eine der regierungstreuen Bewegungen, die sich immer dann zu Wort melden, wenn die »Stimme des Volkes« gefragt ist. Es geht um die Gedenkstätte Perm-36, die einzige in ihrer Art in ganz Russland. In ihr wird die Geschichte des Gulags und der politischen Repression gegen Andersdenkende in der Sowjetunion erzählt. In dem noch zu Stalins Zeiten errichteten Lager, in dessen Spätphase vermeintlich hochgefährliche politische Dissidenten ihre Haftstrafen verbüßten, saßen unter anderem auch ukrainische Nationalisten und einige Nazi-Kollaborateure.

Die KPRF wirft der Museumsleitung Geschichtsfälschung und Verherrlichung von Kriegsverbrechern vor und will das Museum schließen lassen. Außerdem würden die Haftbedingungen nicht realistisch dargestellt. Die Vorwürfe sind pauschal, für die Notwendigkeit der Aufarbeitung der politischen Verfolgung in der Sowjetunion hat die KPRF grundsätzlich kein Verständnis. Sie wird unterstützt von ehemaligen Wärtern, die gegen Angestellte des Museums klagen wollen. Die Museumsleitung ist bereits abgesetzt worden. Der Ausstellung selbst könnte eine differenziertere Aufbereitung nicht schaden, aber von der nun angekündigten Umgestaltung dürfte keine Aufklärung zu erwarten zu sein. Im Gegenteil.

Im Übrigen erhält der ukrainische Nationalismus – oder was die russischen Strafverfolgungsbehörden darunter verstehen – dank der Krim nun wieder Relevanz. Wegen Terrorismusverdachts wurden der von der Krim stammende ukrainische Regisseur Oleg Senzow und drei weitere junge Männer verhaftet, die allesamt angeblich dem »Rechten Sektor« angehören. Sie sollen für den Brandanschlag auf eine Zweigstelle der Partei Einiges Russland in Simferopol verantwortlich sein. Senzows Anwalt, Dmitrij Dinze, sagte, sein Mandant sei gefoltert worden.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2014/24/50029.html

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