Der Osten der Ukraine wird offenbar nicht so schnell zur Ruhe kommen. Lokale Clans und Oligarchen, aber auch Neonazis versuchen, vom Konflikt zu profitieren.
Ausgerechnet am Stadtrand von Donezk – dem russischen Ort, der den gleichen Namen trägt wie die umkämpfte Hauptstadt des ukrainischen Donbass – schlugen am Sonntag mehrere Geschosse ein. Zwei Menschen trugen Verletzungen davon, ein Mann kam ums Leben. Seine Familie hatte der Zivilist nur wenige Tage zuvor in Sicherheit gebracht, nachdem sich die Gefechte zwischen ukrainischen Truppen und Aufständischen an der ukrainisch-russischen Grenze verschärft hatten. Diese ist gerade mal drei Kilometer entfernt. Vermutlich handelte es sich nicht um einen gezielten Treffer, sondern um einen Fehlschuss kaum geschulter Soldaten oder Angehöriger separatistischer Gruppen, von denen es im Konflikt in der Ostukraine viele gibt. Die Geschosse könnten von beiden Seiten stammen, aber niemand will die Verantwortung auf sich nehmen.
Russland reagierte auf den ersten Toten auf russischem Gebiet mit einer Warnung vor »unumkehrbaren Folgen« an die ukrainische Regierung. Berichte, wonach sich die russische Regierung vorbehalte, ukrainische Stellungen anzugreifen, bezeichnete der Pressesprecher des Präsidenten, Dmitrij Peskow, allerdings als »Unsinn«. Franz Klintsewitsch, stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Duma, Afghanistan-Veteran und an der Sonderoperation zur Heimholung der Krim federführend beteiligt, schätzt die Sachlage indes völlig anders ein und spricht sich für ein zielgerichtetes Eingreifen aus. Unterstützung erhielt er aus dem russischen Oberhaus. Auf ukrainischer Seite wiederum wird die Öffentlichkeit auf einen möglichen Bodeneinsatz russischer Truppen eingestimmt.
Anlass dafür bietet die Verstärkung diverser russischer Militäreinheiten in nördlich der umkämpften Regionen gelegenen Grenzgebieten, die ukrainische Militärbeobachter als Ablenkungsmanöver einstufen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte gefordert, die Grenze zu Russland abzusichern, um die »Volksrepubliken« im Donezker und Lugansker Gebiet vom Nachschub an Waffen und freiwilligen Kämpfern komplett abzuschneiden. Daraus erklärt sich die Intensivierung der Gefechte entlang der Grenze. Die ukrainischen Truppen errangen hierbei zwar Teilerfolge, aber seit der Verlegung separatistischer Einheiten hat sich das Zentrum der bewaffneten Auseinandersetzung letztlich nur verschoben. Von einem vorzeigbaren militärischen Erfolg hat sich die ukrainische Regierung derzeit jedenfalls wieder weiter entfernt, als es nach der Aufgabe von Slawjansk durch die aufständischen Einheiten schien. Und damit wächst der Druck auf die ukrainische Führung innerhalb des Landes hinsichtlich einer weiteren Intensivierung der sogenannten Antiterroroperation.
Der russischen Regierung kommt der Beschuss von Zivilisten auf ihrem Staatsgebiet sehr gelegen. So jedenfalls argumentieren ukrainische Quellen, die die Kiewer Zentralregierung unterstützen, wie das Nachrichtenportal mit dem vielsagenden Titel »Informationswiderstand« des Militärexperten und Reserveoffiziers Dmitrij Tymtschuk. Der gezielte Beschuss russischer Grenzgebiete durch Separatisten bilde einen Teil der militärpolitischen Taktik Russlands mit dem Ziel, die internationale Kritik an einer möglichen Intervention gering zu halten. Geschossen worden sei von separatistischen Stellungen aus, wo sich keine ukrainischen Truppen aufgehalten hätten.
Zudem vertritt das Portal die These, die Moral der Aufständischen habe sich nach dem Rückzug Anfang Juli deutlich verschlechtert, was die russische Führung zu einer Veränderung ihrer Vorgehensweise im Hinblick auf den Donbass bewegt habe. Tymtschuk bezweifelt trotz anderslautender Versicherungen, dass das ukrainische Militär jemals in der Lage gewesen sei, Waffenlieferungen aus Russland und den Grenzübertritt ehemaliger Soldaten mit Fronterfahrung auch nur einigermaßen zu unterbinden. Nun lasse sich beobachten, dass Russland dazu übergegangen sei, auch Armeeangehörige mit dem nötigen Know-how zur Bedienung komplizierter Militärtechnik zu entsenden. Den Beweis dafür bleibt er jedoch schuldig.
Auf Seiten der Separatisten jedenfalls ist von außen betrachtet von Aufgeben nichts zu sehen, zumindest aber trifft deren Führung gegen etwaige Überlegungen, dem bewaffneten Kampf eine Absage zu erteilen, entsprechende Vorkehrungen. Ihr Militäroberhaupt Igor Strelkow verkündete in der vergangenen Woche, ab Juli wolle er seinen Kämpfern bis zu 500 Euro Sold bezahlen. Aber selbst geringere Summen, sollten sie tatsächlich bereit stehen, wären für lokale Kämpfer ein nicht zu unterschätzender Beitrag zum Unterhalt ihrer Familien. Wer sich an Ort und Stelle für den bewaffneten Kampf entschieden hat, wird, solange es keine Perspektive für eine ökonomische und politische Umgestaltung des Donbass gibt, nicht einfach ins zivile Leben zurückkehren. Die Frage, was nach dem Krieg kommt, stellt sich derzeit ohnehin nicht, denn die Dynamik des »Antiterrorkampfs« auf der einen und die des bewaffneten Aufstands auf der anderen Seite verdrängt inzwischen jegliche Vorstellung von einem Leben danach.
Dass es Strelkow gelang, nach zahlreichen internen Konflikten den größten Teil der diversen Kampfeinheiten unter seiner Führung zu vereinen, dürfte jedoch weniger an seinen Geldversprechen liegen als an der sich durchsetzenden Erkenntnis, dass die aktiven Kämpfer nach Beendigung der »Antiterroroperation« kaum mit einem Gnadenakt der ukrainischen Regierung rechnen können. Je länger der bewaffnete Kampf andauert, desto unwahrscheinlicher wird ein wie auch immer geartetes Entgegenkommen der ukrainischen Führung und selbst ein Waffenstillstand wie Ende Juni passt nicht mehr ins Kalkül der trotz eines wenig ruhmreichen Verlaufs auf Sieg eingeschworenen Armee. Zudem scheint sich das Widerstandspotential an Ort und Stelle zu erschöpfen. Neue Kader können die Separatisten de facto nur noch aus Russland rekrutieren, wo nach wie vor über alle möglichen Kanäle für einen Einsatz als freiwilliger Kämpfer für die »Volksrepubliken« geworben wird.
Aber nicht allein die Kiewer Führung favorisiert den Antiterrorkampf. Während sich die Aufmerksamkeit auf Präsident Poroschenko konzentriert, nutzen ukrainische Oligarchen die Situation, um ihre eigene Stellung auszubauen. Allen voran der Clan um den Gouverneur von Dnepropetrowsk, Ihor Kolomojskyj. Anders als das vom Bergbau geprägte depressive Donezk gehört Dnepropetrowsk zu den wirtschaftlich rentablen Regionen der Ukraine und spielt zudem politisch eine Schlüsselrolle. So stammt die »Gasprinzessin« und einstige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko von dort. Nun bietet sich für die lokale Führungsschicht eine Gelegenheit zur Umverteilung von Eigentum, das bislang vom Donezker Clan und allen voran vom ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch und dessen Familienunternehmen kontrolliert wurde.
Kolomojskyjs rechte Hand, Gennadij Korban, gab der Novaya Gazeta kürzlich ein aufschlussreiches Interview. Darin sagte er, dass die Idee, den dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nahestehenden ehemaligen Politiker Wiktor Medwedtschuk als Unterhändler und zukünftigen Gouverneur von Donezk ins Spiel zu bringen, von Kolomojskyjs Clan stammt. Das Kalkül dahinter lehnte sich offensichtlich an das Vorgehen Russlands im Tschetschenien-Krieg an: Medwedtschuks enge Beziehungen zu Putin hätten es ihm ermöglicht, in einen direkten Dialog mit dem Kreml zu treten, was offensichtlich zu einer Schwächung der Kiewer Zentralregierung geführt hätte. Medwedtschuks Aufgabe wäre es gewesen, die separatistischen Kampfverbände zu spalten, indem jene, die sich keine schwerwiegenden Vergehen zuschulden kommen ließen, in die Polizeistrukturen integriert würden, während all jene, die sich weigern, unter ukrainischer Flagge zu kämpfen, zum Abschuss freigegeben wären. Dass sich Präsident Poroschenko stattdessen für eine Beendigung der Feuerpause und gegen eine schnelle politische Lösung entschied, begrüßt Korban nicht nur. Er ist sogar davon überzeugt, dass der Oligarchen-Clan aus Dnepropetrowsk erst durch sein Agieren Poroschenko zu einer Wiederaufnahme der »Antiterroroperation« bewegt habe.
Kolomojskyj und seine Verbündeten hegen jedoch noch weit ambitioniertere Pläne. Mit Verweis auf Putins Bestreben, die politische und ökonomische Kontrolle über den gesamten Südosten der Ukraine zu erlangen, bieten sich die Oligarchen aus Dnepropetrowsk überall dort als Garant gegen eine etwaige russische Dominanz an, wo es sich aus wirtschaftlicher Sicht lohnt. Neben dem Gebiet Dnepropetrowsk, in dem strategisch wichtige Rohstoffe wie Mangan und Uran abgebaut werden und in dem sich die auch für Russlands Raketenprogramm bedeutende ukrainische Rüstungsindustrie konzentriert, spielt hier vor allem Odessa als Knotenpunkt für den Transit von Gas und Öl eine Rolle.
Währenddessen bauen auch die Neonazikämpfer des der ukrainischen Nationalgarde zugehörigen Bataillons Azow ihre Stellung als staatlich sanktionierte »Schutzmacht« aus. Vergangene Woche griffen dessen Angehörige den Maidan in Kiew an, wobei es zu einem Schusswechsel mit den dort verbliebenen Selbstverteidigungsstrukturen kam. Alle »echten« aktiven Unterstützer des Maidan kämpften schließlich längst im Donbass, hieß es in einer Erklärung des Azow-Pressesprechers Igor Mosijtschuk. Nun sei es an der Zeit, den Platz endgültig zu räumen. Damit entsprach das Bataillon ganz dem Geschmack von Innenminister Arsen Awakow, der den Maidan in seiner jetzigen Form als ein »Projekt des FSB«, des russischen Inlandsgeheimdienstes, bezeichnete.
Verstärkung aus Russland erhielt das Bataillon vergangene Woche durch Roman Schelesnow, einen der Gründer der russischen Anti-Antifa und Ideologen der Neonazigruppe »Wotan-Jugend«. Schelesnow beantragte in der Ukraine Asyl, da er in Russland wegen seiner proukrainischen Haltung verfolgt werde. Dabei gilt er als Informant des Zentrums für Extremismusbekämpfung. Wie dem auch sei, der Großteil der russischen extremen Rechten unterstützt nach wie vor die abtrünnigen »Volksrepubliken«.
Ute Weinmann