Weder Krieg noch Frieden

An Frieden ist in der Ostukraine vorerst nicht zu denken. Die am Abend des 5. September offiziell in Kraft getretene Feuerpause dient bestenfalls als Vorspiel für einen langanhaltenden Verhandlungsprozess. Vielleicht bleibt es aber auch bei einer zeitlich begrenzten Atempause, die nach monatelangen Gefechten alle beteiligten Seiten dringend benötigen. Anstelle eines nichterklärten, de facto jedoch mit fast allen zur Verfügung stehenden Mitteln geführten Kriegs, in dem sich lokale Aufständische, russische Armeeangehörige und freiwillige KämpferInnen mit ukrainischen SoldatInnen, bunt zusammengewürfelten und mehr oder weniger autonom agierenden Bataillonen und Privatarmeen bekriegen, herrscht nun tatsächlich weder Krieg noch Frieden. Geschossen wird weiterhin, wenngleich sich im Großen und Ganzen alle an die Vereinbarungen halten.

Doch allein die Zwischenbilanz wartet mit verheerenden Zahlen auf: Die Vereinten Nationen gehen mittlerweile von insgesamt über 3.000 Todesopfern des bewaffneten Konflikts aus, die 298 Passagiere der über dem Kampfgebiet abgeschossenen Boeing der Malaysia Airlines eingerechnet. Vieles spricht dafür, dass das Flugzeug von einer Rakete getroffen wurde, die Aufständische aus einem von ihnen kontrollierten Territorium abgefeuert hatten. Dahingehend äußerte sich der Premierminister Malaysias Najib Razak anlässlich des Abschlusses vorläufiger Ermittlungen, deren Ergebnisse am 9. September der Öffentlichkeit präsentiert wurden.

Es fehlt die nötige Verbindlichkeit

Ob das Anfang September in der belorussischen Hauptstadt Minsk während trilateraler Gespräche auf dem Treffen der sogenannten Kontaktgruppe unterzeichnete Protokoll mehr als das Papier mit darauf insgesamt zwölf festgehaltenen Punkten wert ist, zeigt sich womöglich schon bald. Obwohl das Dokument in seiner Überschrift auf die Umsetzung der Friedenspläne des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und seines russischen Amtskollegen Wladimir Putin verweist, fehlen deren Unterschriften und damit auch die für einen ernst gemeinten Friedensprozess nötige Verbindlichkeit. Unterzeichnet haben lediglich fünf mit den Verhandlungen im Rahmen der Kontaktgruppe beauftragte UnterhändlerInnen: Heidi Tagliavini für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der russische Botschafter in Kiew, Michail Surabow, der ukrainische Ex-Präsident Leonid Kutschma und die beiden Premierminister der »Volksrepubliken« in Donezk und Lugansk, Alexander Sachartschenko und Igor Plotnitskij.

Im Minsker Protokoll findet sich neben der Einstellung aller Kampfhandlungen, des Abzugs aller irregulären Kampfverbände und Militärtechnik und der Freilassung aller Gefangenen — deren Anzahl im Übrigen unbekannt ist — auch die Vorgabe, wonach die Dezentralisierung der Ukraine durch einen gesonderten Status einzelner Abschnitte des Donezker und Lugansker Gebiets zu erfolgen habe. Diese Passage stellt ein entsprechendes Gesetz in Aussicht, ist aber so allgemein formuliert, dass weitreichender Spielraum für dessen Ausgestaltung bleibt. Allerdings mit der Einschränkung, dass die territoriale Integrität der Ukraine nicht in Frage gestellt wird. Dies wiederum erlaubt es Poroschenko, den erstmals mit einem sichtbaren Ergebnis geführten Dialog als Etappensieg auszugeben, obwohl die nun faktisch erfolgte Anerkennung der Vertreter der »Volksrepubliken« als vollwertige Verhandlungspartner einen klaren Bruch zur bislang favorisierten Anti-Terror-Taktik darstellt.

Auf die Verlässlichkeit der beteiligten Parteien ist indes ohnehin kein Verlass. Kaum war die Vereinbarung über die Einstellung der Kämpfe getroffen, regte sich Widerstand in den Reihen der Aufständischen. Andrej Lawin, Pressesprecher der Truppen von »Noworossija«, dem »neuen Russland« auf ukrainischem Staatsgebiet, erklärte, dass von einem Waffenstillstand ihrerseits keine Rede sein könne. Eine Aufgabe des Kampfes sei nur unter den Bedingungen einer kompletten Loslösung von der Ukraine denkbar. Außerdem zweifelte er die Bevollmächtigung der UnterhändlerInnen für etwaige Zugeständnisse an Kiew an. Auch Plotnitskij nannte das Ergebnis eine erzwungene Maßnahme und ließ durchblicken, dass zur Durchsetzung eigener Interessen notfalls weiter mit der Waffe gekämpft werden wird. Außerdem hielten Aufständische nicht mit dem Vorwurf zurück, wonach Kiew die Waffenpause lediglich zur Neuverteilung der ukrainischen Truppen nutze, um sich im Weiteren eine bessere Ausgangssituation zu verschaffen.

Militärisch gesehen stand es in der letzten Zeit schlecht um einen Sieg der Kiewer Zentralregierung im Osten der Ukraine. Einige Positionen konnten separatistische Einheiten sogar zurückerobern, darunter die grenznahe Stadt Nowoazowsk. Nächste Station, um den Landweg von russischem Territorium auf die Halbinsel Krim zu ebnen, wäre Mariupol — mit knapp einer halben Million EinwohnerInnen die zweitgrößte Stadt im Donezker Gebiet. Dass die Kämpfe dort nicht mit voller Wucht entbrannten, liegt einzig an dem rechtzeitig vereinbarten Waffenstillstand. Hätte es die Nationalgarde nur mit den lokalen separatistischen Verbänden im Donbass zu tun, würde sich die Überlegenheit des ukrainischen Militärs trotz seiner eklatanten Defizite früher oder später wohl in der Niederschlagung der aufständischen Kräfte äußern.

Aber Kiew sah sich in den letzten Wochen vermehrt mit dem massivem Einschreiten des russischen Militärs konfrontiert. Auf Dauer hätten die ukrainischen Truppen diesem Druck nicht standgehalten. Da sich Poroschenko — will er im Herbst eine regierungsfähige Parlamentsmehrheit erreichen — die Schmach einer militärischen Niederlage nicht leisten kann, blieb ihm kaum eine andere Wahl, als sich auf Verhandlungen über den Status der umkämpften Gebiete um Donezk und Lugansk einzulassen.

Russland hält trotz gegenläufiger Behauptungen der Regierung den bewaffneten Aufstand in »Noworossija« seit Monaten mit allen nötigen Mitteln am Laufen und verstärkte seine Bemühungen seit August zunehmend. Die Botschaft lautete unzweideutig: Dem ukrainischen Präsidenten sollte ein für allemal vor Augen geführt werden, dass er sich, egal was er auch unternimmt, keinerlei Chance auf einen militärischen Sieg im Donbass ausrechnen darf. Putin hat Poroschenko gezielt in die Enge getrieben und ihm dann — wohl nicht zufällig kurz vor Beginn des NATO-Gipfels — das schwammig vorgebrachte Angebot überreicht, mit den Aufständischen Verhandlungen über den zukünftigen Status der »Volksrepubliken« zu führen. Schließlich, so die Logik, handele es sich um einen rein innerukrainischen Konflikt, in dem Russland bestenfalls als Vermittler agieren könne.

Es fehlt an mehrheitsfähigen Zukunftsvisionen

An der politischen Ausgestaltung von »Noworossija« verfolgt die russische Führung an sich kein direktes Interesse, vielmehr dient die Region quasi als Faustpfand: Tritt die Ukraine der NATO nicht bei, unterstützt Russland den Verbleib von Donezk und Lugansk in der Ukraine. Dass Russlands Einflussnahme im Donbass nachhaltig zum Tragen kommt, liegt jedoch tatsächlich an der schwierigen Beziehungsgeschichte der lokalen politischen und ökonomischen Eliten zur Kiewer Zentralregierung, die sich seit Gründung der Ukraine als unabhängiger Staat durchweg negativ auswirkt.

Die Jahre der Unabhängigkeit sind gleichzusetzen mit dem Kollabieren des die Region prägenden Bergbaus. Statt durch Energielieferungen ein Fundament für die gesamte ukrainische Wirtschaft zu schaffen, wie es das Selbstverständnis deklarierte, sah sich die Bevölkerung mit ihrem rasanten sozialen Abstieg konfrontiert. Stärker als Sympathien für den zahlungskräftigen Nachbarn, der als Abnehmer eines nicht unwesentlichen Teils der Produktion fungiert, macht sich in den depressiven Orten rund um stillgelegte oder unrentable Bergwerke die Abneigung gegen Kiew bemerkbar. Gleichzeitig hält sich der Zuspruch zu den separatistischen Kräften in Grenzen. Die ostukrainischen »Volksrepubliken« verfügen weder über eine politische Vertretung, noch über mehrheitsfähige Zukunftsvisionen. Demnach bringen die bevorstehenden ukrainischen Parlamentswahlen dem Donbass auch keine Stärkung seiner Interessenvertretung in Kiew ein. Doch wer über Waffen verfügt, hat immerhin vor Ort das Sagen. Das bekamen insbesondere jene durch Zwangsrekrutierungen zu spüren, die sich einer aktiven Beteiligung an den Kämpfen zu entziehen versuchten.

Auch ist die Frage angebracht, welchen Nutzen die Ukraine aus dem Verbleib des auf Subventionen angewiesenen Donbass ziehen kann. Unlängst bezifferte der ukrainische Premierminister Arsenij Jatsenjuk die Kosten für nötige Investitionen für den Wiederaufbau der Region auf acht Milliarden Dollar. Die langandauernde »Anti-Terror-Operation« mit ihren zahlreichen Opfern trieb den Preis für die staatliche Einheit in die Höhe. Bei an den Kämpfen beteiligten SoldatInnen und ebenso bei einem Großteil der ukrainischen Bevölkerung dürfte eine Absage an dieses Credo auf wenig Verständnis stoßen. Auch sieht sich Poroschenko gezwungen, gegenüber der ukrainischen Oligarchie eine starke Position einzunehmen. Allen voran gelang es dem Oligarchen und Gouverneur von Dnepropetrowsk Igor Kolomojskij seinen Machtbereich bereits erheblich auszuweiten, nicht zuletzt deswegen, weil er finanziell und mit eigenen Truppen einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Kiewer »Anti-Terror-Operation« beiträgt.

Ob die vorübergehende Waffenruhe eingehalten wird oder gar einen Friedensprozess einleitet, hängt jedoch nicht zuletzt davon ab, ob sich der Kreml zu einer Deeskalationsstrategie durchringt und der Westen, allen voran die USA, mit Entgegenkommen reagiert. Russlands Sicherheitsinteressen werden durch das bisherige riskante Vorgehen des Kremls eher unterlaufen als in angemessener Weise vertreten. Nachrichten über tote und verwundete russische SoldatInnen, die statt zum Manöver auf kriegerische Friedensmission entsandt worden waren, sorgten für negative Schlagzeilen und Besorgnis. Da kommt eine Kampfpause zum rechten Zeitpunkt. Nicht von der Hand zu weisen ist zudem, dass Russland der NATO einen willkommenen Vorwand liefert für eine verstärkte Präsenz an der östlichen Peripherie. Dabei kann man nur hoffen, dass die NATO es mit ihrer angekündigten Militärhilfe für die ukrainische Armee nicht zu weit treibt.

Ute Weinmann

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