Zweimal lebenslänglich, eine Haftstrafe von 24 Jahren und ein Freispruch. Damit ging in Moskau ein Gerichtsprozess gegen eine Gruppe Neonazis seinem Ende entgegen, der so manche aufschlussreichen Details über einzelne Tathergänge an die Oberfläche brachte, die heikle Schlüsselfrage nach den dahinter stehenden politischen Zusammenhängen jedoch weitgehend ausblendete. Allzu viel Aufklärung durfte man sich in dieser Hinsicht von Anfang an nicht erwarten, dabei hätte gerade die „Kampforganisation russischer Nationalisten“, abgekürzt BORN, das Zeug zum Lehrstück über „gelenkten Nationalismus“ gehabt, analog zum Demokratieverständnis der russischen Elite zu Beginn der 2000er Jahre. Verbindungen der russischen Neonaziszene in den Polizeiapparat sind Teil des Genres, aber BORN ging wesentlich weiter. Die Anführer der ambitionierten Bande profitierten vom Interesse an der extremen Rechten im Kreml, der als Antwort auf die „orangene Gefahr“ des ersten Maidan die Neonaziszene in gewissen Grenzen gewähren ließ und einzelne Vertreter für das politische Establishment nutzbar machte.
Mit BORN schließt sich ein Kapitel der Geschichte der russischen Neonaziszene, das derzeit im Donbass um ein neues ergänzt wird. Gemeinsam ist beiden, dass Vertreter der extremen Rechten im Auftrag oder mit Wissen der Staatsmacht agieren. Ilja Gorjatschew legte zuerst mit der Zeitschrift Russkij Obraz, 2007 dann mit der Gründung der gleichnamigen legalen Neonaziorganisation den Grundstein für BORN. Er stellte den Kontakt zur Präsidialverwaltung und Politikern her. Sein Freund Nikita Tichonow, der nach der Ermordung des Antifaschisten Alexander Rjuchin unter Verdacht geriet und abgetaucht war, sorgte dafür, dass BORN als Kampfflügel von Russkij Obraz Gestalt annahm. Er kümmerte sich um das nötige Waffenarsenal und rekrutierte die zukünftigen Täter.
Tichonow, der eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes an dem Anwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasia Baburowa absitzt und sich im Vorfeld des laufenden Prozess mit ausführlichen Aussagen über BORN und seine Mitglieder zu Wort gemeldet hat, gab an, Gorjatschew habe ihm Namen jener zugetragen, die es im Interesse seiner politischen Gönner in der Präsidialadministration aus der Welt zu schaffen gelte. Im Gegenzug könne er damit rechnen, dass die Fahndung nach ihm eingestellt werde. Gegen die erste Auswahl potenzieller Opfer – darunter der Oppositionelle Garry Kasparow und Vertreter der Nationalbolschewistischen Partei – hatte Tichonow Einwände vorzubringen. Markelow und führende Vertreter der Antifa fanden als Angriffsziele jedoch seine volle Zustimmung. Ein Geständnis legte er erst nach seiner Verurteilung ab, wegen weiterer Mordfälle folgte ein zweites Urteil über weitere 18 Jahre Haft.
Auf der Anklagebank in Moskau saßen allerdings nicht die Anführer von BORN. Von den vier Neonazis hat einer, nämlich Michail Wolkow, seine mörderische Karriere gemeinsam mit Tichonow Ende der 1990er Jahre bei den „Vereinigten Brigade“ OB-88 begonnen und bereits eine längere Haftstrafe abgesessen. Jurij Tichomirow wurde bereits vor Jahren wegen einer Mordepisode verurteilt, die jetzt wieder zur Sprache kam. Maksim Baklagin und Wjatscheslaw Isajew vervollständigen die Truppe. Von BORN wollen die Angeklagten entweder gar nichts gewusst haben oder distanzieren sich davon. Die Liste der ihnen zur Last gelegten Tatbestände ist lang: mehrfacher Mord, versuchter Mord, illegaler Waffenbesitz, Organisation einer extremistischen Vereinigung, Banditismus. Sie mordeten auch nach Nikita Tichonows Verhaftung im November 2009 weiter.
Tichonow und Wolkow machten mit der Ermordung des Antifaschisten Fjodor Filatow im Oktober 2008 den Anfang. Weitere Antifaschisten, Migranten aus Mittelasien, einige aus dem Kaukasus stammende Männer wurden die nächsten Opfer. Die tatsächlichen oder vermeintlichen Auftraggeber seien nicht begeistert gewesen, als sich die Gruppe in ihrer Tötungsbesessenheit immer weiter verselbständigte. Wie hoch der Wahrheitsgehalt von Tichonows Aussagen oder denen seiner ehemaligen Lebensgefährtin Jewgenija Chasis ist, die wegen der Ermordung von Markelow und Baburowa eine 18-jährige Haftstrafe absitzt, lässt sich jedoch nur bedingt überprüfen. Zeugen, die dazu wertvolle Einschätzungen liefern könnten, erhielten mit Ausnahme von Ilja Gorjatschew erst gar keine Vorladung. Gorjatschew, der in Untersuchungshaft auf einen gesonderten Prozess wartet, gab sich bei seiner Vernehmung vor Gericht über alle Massen selbstsicher, zur Sache trug er durch seine Taktik der faktischen Aussageverweigerung allerdings nichts bei. Der intellektuelle Kopf der Gruppe will niemanden kennen und sieht sich durch seinen ehemaligen Freund Tichonow verleumdet.
Besiegelt war das Schicksal der Neonazigruppe erst nach dem Mord an dem Richter Eduard Tschuwaschow im April 2010. Dieser direkte Angriff auf die Staatsgewalt war in der wie auch immer gearteten Vereinbarung mit der politischen Führung offensichtlich nicht vorgesehen. Tschuwaschows mutmaßlicher Mörder Aleksej Korschunow sitzt nur deswegen nicht auf der Anklagebank, da er sich vor einigen Jahren in der Ukraine aus Versehen selbst in die Luft gesprengt hat. Den Zeugenaussagen lässt sich entnehmen, dass es sich bei dem ehemaligen Angehörigen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB Korschunow um einen notorischen Mörder mit fast schon pathologischen Zügen gehandelt haben muss. Auch wenn diese Charakteristik zutreffen mag, fällt auf, dass sich seine vormaligen Gesinnungsgenossen den toten Korschunow gerade deshalb zunutze machen, indem sie dessen Rolle besonders hervorheben und die eigene verdächtig abschwächen. Insbesondere triff dies auf Wolkow zu, der das Geschworenengericht bei jeder sich bietenden Gelegenheit von seiner moralischen Integrität als Familienvater zu überzeugen versuchte, unterbrochen von einem unverkennbar genervten Richter. Es war Wolkow sichtlich unangenehm, als seine zahlreichen Tattoos mit eindeutiger Nazisymbolik, darunter der Kopf von Adolf Hitler, zur Sprache kamen. Er liebe sein Land, seine Heimat, sein Volk. Seine Taten seien nichts anderes als Selbstverteidigung.
Bis auf Jurij Tichomirow, der unentwegt behauptete, seine Aussagen seien unter Folter entstanden, haben alle ihre Schuld an den ihnen zur Last gelegten Taten eingestanden. Nicht jedoch das politische Tatmotiv, das straferschwerend dazu kommt. Sie alle wollen lediglich aus Rache gehandelt haben. Die ermordeten Antifaschisten Fjodor Filatow und Iwan Chutorskoj hätten es mit dem Gesetz nicht so genau genommen und junge Nationalisten tätlich angegriffen, schließlich seien sie deshalb gestorben, so lautete ebenfalls der Tenor der Anwälte der Verteidigung. Ilja Dzhaparidze habe angeblich die Schwester eines verurteilten Neonazis angegriffen, was nachweislich gelogen ist. Der armenische Taxifahrer Sos Chatschikian verlor sein Leben, weil er die vermeintlich schwangere Angestellte eines Telefonladens tätlich angegriffen hat, die daraufhin eine Fehlgeburt erlitten haben soll, wie die Boulevardpresse wusste. Die Frau trat als Zeugin auf: sie war zu besagtem Zeitpunkt gar nicht schwanger. Tichonows und später Korschunows Anweisungen leisteten die Neonazis Folge oder wurden sogar ohne konkrete Vorgabe initiativ. Baklagin und Isajew kamen mit der Zeit erst so richtig in Fahrt. Einzig Korschunows Idee mit dem Richtermord fand bei ihnen keinen Anklang, weil dafür garantiert eine lebenslange Haftstrafe anstehe, erklärte Isajew. Den Wohnort und die Zeiten, zu denen der Richter morgens sein Haus verließ, kundschafteten die Neonazis dennoch bereitwillig aus. Enttäuscht wurden sie lediglich, als sich keine Nachahmer ihres Rachefeldzuges im Interesse des russischen Volkes fanden, denn damit hätten sie ernsthaft gerechnet.
Nun ist es nicht ganz so, wie Isajew darstellt. Zur Tat schreitende Anhänger einer menschenverachtenden Weltanschauung gibt es in Russland nach wie vor mehr als genug. Allein in Moskau sind derzeit mehrere Mordprozesse gegen Neonazis anhängig. Auch gegen einige führende Kader aus der extremen Rechten laufen Ermittlungsverfahren. Dennoch bleibt die bittere Gewissheit zurück, dass sich für russische Neonazikader auch weiterhin ein staatlich sanktionierter Verwendungszweck finden lässt.
Ute Weinmann