Die russische Regierung behauptet, den Jihadismus im Kaukasus eingedämmt zu haben. Doch Experten haben Zweifel, denn der »Islamische Staat« hat Zulauf.
Richtet sich ein Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund irgendwo in Europa gegen Zivilpersonen, ist die Aufregung verständlicherweise groß. Zumal wenn eine Metropole mit hoher Einwohnerdichte oder Flugzeuge und andere öffentliche Verkehrsmittel betroffen sind. Allein das Gefühl, Gefahren nicht mehr lokalisieren zu können, führt zu Verunsicherung. Töten Jihadisten Angehörige von Sicherheitskräften, noch dazu im russischen Nordkaukasus, nimmt dies nur eine relativ kleine Minderheit außerhalb der Region zur Kenntnis, selbst wenn der »Islamische Staat« hinter dem Anschlag steht. Seit Ende 2015 bekannten sich Anhänger des IS dort in mindestens vier Fällen zur Täterschaft, häufiger ist allerdings zu vernehmen, dass die russischen Sicherheitsbehörden eine Tat verhindert hätten.
Nach außen mag so der Eindruck entstehen, Russland habe die Terrorgefahr im eigenen Land weitgehend unter Kontrolle. Ein Blick in die Statistik scheint dies zu bestätigen, zumindest fallen die Verluste der russischen Sicherheitskräfte seit 2012 immer geringer aus und lagen im vergangenen Jahr im gesamten Nordkaukasus bei knapp über 50 Personen. Seit den olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 hat sich nach offiziellen Angaben die Lage im Kaukasus etwas entspannt. Menschenrechtsorganisationen verweisen indes darauf, dass dies nicht allein auf Antiterrormaßnahmen der Sicherheitsbehörden zurückzuführen sei, die allein für das Jahr 2015 die Tötung von 156 Untergrundkämpfern im Nordkaukasus vermeldeten. Vielmehr gibt es Hinweise darauf, dass der russische Sicherheitsapparat, um einen ungestörten Verlauf des für das internationale Image des Landes bedeutsamen Sportereignisses zu gewährleisten, zumindest zeitweise darauf setzte, Jihadisten und potentielle Nachahmer aus dem Land zu drängen. Die Ausreise als Islamisten bekannter Personen wurde nicht unterbunden, sondern durch repressive Verfolgungsmaßnahmen gegen religiöse Gruppen der per se als staatsfeindlich eingestuften Salafisten sogar gefördert. An die Stelle zwischenzeitlich erprobter und – zumindest in Dagestan und Inguschetien – durchaus erfolgreicher spezieller Wiedereingliederungsprogramme für ehemalige Untergrundkämpfer und Dialogversuche mit nicht-gewalttätigen Salafisten trat eine Politik der Härte.
In seinem jüngst in Moskau erschienenen Bericht hebt das Menschenrechtszentrum Memorial dieses auch von vielen anderen Kaukasus-Experten, beispielsweise der International Crisis Group, als problematisch erachtete repressive Vorgehen gesondert hervor. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine nahmen staatliche Terrormethoden im Nordkaukasus seit dem Frühjahr 2014 deutlich zu und bildeten von nun an die Grundlage für den Umgang mit Anhängern des im russischen Teil des Kaukasus nicht traditionellen Salafismus. Allerdings klagen in Dagestan inzwischen auch jene über polizeiliche Schikanen, die sich dem Sufi-Islam zugehörig fühlen. Es braucht nicht viel, um auf Anordnung des Innenministeriums der Republik – eine gesetzliche Grundlage fehlt bislang – festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt zu werden. Tausende Personen sollen allein in Dagestan auf diese Weise bereits erfasst worden sein, darunter auch Kinder. Nur wer über umgerechnet mehrere Tausend Euro verfügt, kann sich aus der Liste wieder streichen lassen – Korruption macht’s möglich. Polizisten mit niedriger Erfassungsrate wiederum droht eine Suspendierung; wer einen in Syrien oder im Irak aufgetauchten Jihadisten zuvor nicht erkannt hat, hat mindestens eine Disziplinarstrafe zu erwarten. Die tschetschenische Führung pflegt im Übrigen traditionell eine härtere Gangart gegenüber Islamisten, von denen einige spurlos verschwunden sind.
Bis zu 5 000 russische Staatsbürger sollen für den IS, die al-Nusra-Front und andere islamistische Gruppen in Syrien kämpfen, wobei insbesondere kampferfahrene tschetschenische Jihadisten in einflussreichen Positionen anzutreffen sind. Zuverlässige Zahlenangaben fehlen, zudem können polizeiliche Maßnahmen die Rekrutierung frischer Kräfte aus Russland nicht verhindern. Nach zugänglichen Quellen zu urteilen kehrt nur ein Bruchteil der nach Syrien aufgebrochenen Islamisten nach Russland zurück. Dort erwarten sie ein Strafverfahren und Haft. Staatsvertreter machten unterschiedliche Angaben über die Anzahl an eingeleiteten Ermittlungen; von bis zu 800 ist die Rede. Im Dezember teilte die russische Presseagentur Interfax mit, bislang seien über 150 aus Syrien zurückgekehrte russische Staatsbürger wegen illegaler Beteiligung an Kampfhandlungen im Ausland verurteilt worden.
Als Kader für den islamistischen Untergrund im Kaukasus, der sich trotz anfänglicher Widerstände in der Führung des de facto nicht mehr existenten »Kaukasus-Emirats«, einer regionalen aufständischen Gruppe mit Verbindungen zu al-Qaida, zu weiten Teilen dem »Kalifat« des IS angeschlossen hat, kommen sie durchaus in Frage. Achmet Jarlykapow, Kaukasus-Experte am staatlichen Institut für internationale Beziehungen in Moskau, geht davon aus, dass ein Erstarken von IS-Kampfeinheiten in Dagestan nur noch eine Frage stabiler finanzieller Förderung ist. Noch reichen die Mittel für großangelegte Anschläge innerhalb oder außerhalb der Republik offenbar nicht aus, selbst wenn Prognosen ein pessimistischeres Szenario zeichneten.
Aber auch ohne den Zuwachs durch ehemalige Syrien-Kämpfer dürfte es den kampfwilligen islamistischen Gruppen im Kaukasus künftig kaum an Personal fehlen. Zumindest mangelt es nicht an Sympathisanten. Zum einen tragen die wahllose Schließung von Moscheen und allerlei Schikanen dazu bei, junge Muslime gegen den russischen Staat aufzubringen. Zum anderen braucht es für eine Radikalisierung keinen Imam in nächster Nähe, denn virtuelle Kommunikationsformen können die Moscheen und den persönlichen Kontakt zu Hasspredigern als Werbeplattform ersetzen. Die regionale Anbindung an islamistische Gruppen im russischen Nordkaukasus stellt also längst keine Bedingung mehr für eine Hinwendung zum radikalen Islam dar. Russische Sicherheitsbehörden gehen von mehreren Hundert Anhängern des IS in Regionen aus, die sich in weiter Entfernung von islamistischen Hochburgen befinden, darunter auch in Westsibirien.
Neben islamistischen Überzeugungen und der Suche nach einer religiösen Utopie benennt Jekaterina Sokirianskaia von der International Crisis Group Realitätsflucht als Motiv, sich dem IS anzuschließen. Das treffe auch auf Frauen zu, deren Anteil an den nach Syrien ausgereisten Islamisten etwa zehn Prozent beträgt. Repressive gesellschaftliche Verhältnisse bieten beispielsweise einer verheirateten Frau in Dagestan kaum eine Möglichkeit, einen ihr durch Zwangsehe verbundenen Ehemann zu verlassen. Zudem lockten Anwerber mit Versprechungen, die nach einer Art islamischem Sozialismus klingen: Gerechte Verteilung gesellschaftlichen Reichtums erwarte sie. Als Ironie der Geschichte mag man diese Form des Zynismus allerdings nicht bezeichnen.
ute weinmann