Postsowjetische Spaltungen

Nach der Aufteilung ist vor der Aufteilung

In Berg-Karabach und in der Ostukraine fördert die regionale Großmacht Russland prorussische Abspaltungen. Doch in Russland selbst wird Separatismus mit eiserner Faust unterdrückt.

Nach ihrem Zerfall hinterließ die Sowjetunion eine Reihe neuer Herrschaftsterritorien, die immer wieder durch bewaffnete Auseinandersetzungen auf sich aufmerksam machen. Gerne als «eingefrorene Konflikte» bezeichnet, bergen einzelne Regionen ein hohes Gefahrenpotenzial – zum Beispiel das in Aserbaidschan gelegene Berg-Karabach. Unter den verschiedenen separatistischen Abspaltungen gibt es einerseits Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Gründe und Ursachen: So spielt Russland jeweils eine zentrale Rolle als dezidierter Nachfolger der Sowjetunion und regionale Großmacht mit weitreichenden geopolitischen Ambitionen. Andererseits existieren nicht zu vernachlässigende regionale Besonderheiten.

Anfänge der aktuellen kriegerischen Eskalation zeichneten sich in Berg-Karabach schon während der Perestroika ab. Die dort ansässige mehrheitlich armenische Bevölkerung verschaffte ihrem Unmut angesichts der sich verschlechternden sozialökonomischen Lage zusehends Luft. Hörbar? wurde unter anderem eine administrative Zugehörigkeit zu Armenien gefordert. Gestützt durch Angehörige der lokalen Sowjeteliten, darunter Betriebsdirektoren, griffen armenische nationalistische Kräfte diese Tendenzen gezielt auf und förderten die weitere Eskalation. Auslöser für eine ethnische Zuspitzung des Konflikts war ein Pogrom gegen die armenische Bevölkerung der in Aserbaidschan gelegenen Stadt Sumgait im Jahr 1988. Die armenische Enklave Berg-Karabach erklärte schließlich 1991 ihre Unabhängigkeit. Das hatte einen Krieg zur Folge, bei dem bis 1994 weit über 10.000 Menschen ihr Leben verloren. Seither befindet sich die international nicht anerkannte Republik unter Kontrolle der armenischen Streitkräfte.

Moskau mauert

Anfang April dieses Jahres initiierte die aserbaidschanische Armee einen erneuten Vorstoß, und wieder gab es Tote. Seit dem Kriegsende 1994 fanden an der Grenzlinie immer wieder Schusswechsel statt. Nach der Annexion der Krim durch Russland im März 2014 stieg die Zahl derartiger Zwischenfälle sprungartig an. Das armenisch-aserbaidschanische Verhältnis ist traditionell angespannt, und die faktische Niederlage im Krieg gegen den missliebigen Nachbarn stellt für Aserbaidschan eine nationale Tragödie dar. Dank hoher Einnahmen aus dem Ölgeschäft rüstete Aserbaidschan gewaltig auf und modernisierte seine Armee, um früher oder später die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Armenien fehlen dazu die Mittel, aber ihre alten sowjetischen Armeebestände sind durchaus einsatztauglich. Zudem stammen armenische Führungskader aus Karabach und sind so der Region verbunden, einschließlich des Präsidenten Sersch Sargsjan. Jegliche Anstrengung zugunsten einer ernsthaften Beilegung des Konflikts oder gar Aussöhnung gälte in beiden Ländern vermutlich als Landesverrat.

Den Schlüssel zur Konfliktlösung sieht Berg-Karabach in Moskau. Russland trägt allein schon deshalb eine Teilschuld an der Eskalation, weil Aserbaidschan eine wichtige Abnehmerin der russischen Rüstungsindustrie darstellt. Neben dem sich daraus ergebenden finanziellen Profit verfolgt Russland ein weiteres Interesse, nämlich die Anbindung Aserbaidschans an die Türkei zu begrenzen. Gleichzeitig bleibt Russland ein wichtiger strategischer Partner Armeniens und spielt eine zentrale Rolle hinsichtlich der Sicherheit des Landes. Im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit wäre Russland gezwungen militärisch einzugreifen, sollte Armenien von außen bedroht werden. Solange wiederum die Republik Berg-Karabach offiziell nicht zu Armenien gehört, ist diese Verpflichtung hinfällig, was zumindest aus russischer Perspektive für den Erhalt des Status Quo spricht.

Zusätzliche Sprengkraft erhält der Konflikt in Berg-Karabach, weil er von einem regionalen postsowjetischen zu einem größeren internationalen Konflikt avancierte. Die Türkei steht hier voll hinter Aserbaidschan. Wie schnell sich die Konfigurationen in der gesamten Region verändern können, zeigen gerade die Zwistigkeiten zwischen Moskau und Ankara. Deren Verhältnis verschlechterte sich angesichts unterschiedlicher Positionierungen im Syrienkrieg und vor allem nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch türkisches Militär letzten November. Wenngleich sowohl Russland als auch die Türkei an Stabilität in der Region interessiert sind, ist unabsehbar, wie sich deren kompliziertes Verhältnis auf den Karabach-Konflikt auswirkt. Doch welche Interessen Russland auch immer verfolgt: Einen seinem Einfluss in der Ukraine vergleichbaren Machtanspruch stellt Moskau im Südkaukasus nicht.

Brüderliche Hilfen zur Abspaltung …

Ausgerechnet die Annexion der Krim, die Russland so leicht von der Hand ging, entwickelte eine unerwartete Sprengkraft. Die Krim diente vielerorts als Weckruf aus Moskau. So verkündete im Juni 2014 das südossetische Parlament, es sei ein Referendum über einen möglichen Beitritt zu Russland geplant. Bis Herbst 2016 soll es über die Bühne gehen und eine Verfassungsänderung erwirken, die es dem de jure zu Georgien gehörenden Südossetien erlaubt, Russland um seinen Beitritt zu ersuchen. Faktisch würde damit gleich eine regionale Wiedervereinigung mit dem russischen Nordossetien herbei geführt. Moskau hat damit wiederum keine Eile. Ohnehin verfügen die BewohnerInnen der von Russland anerkannten Republik über russische Pässe, ähnlich wie im ebenfalls von Georgien losgesagten Abchasien. Auch Transnistrien, dessen Bevölkerung sich 2006 in einem nur von Russland anerkannten Referendum für einen Beitritt zu Russland aussprach, nutzte den Anlass, um seine Beitrittsabsichten zu bekräftigen. Transnistrien hat sich 1990 von der Republik Moldau losgesagt, ihrerseits eine Sowjetunion-Abspaltung, und ist Mitglied in der „Gemeinschaft nicht anerkannter Staaten“, zusammen mit Berg-Karabach, Südossetien und Abchasien.

Die Kontrolle über «eingefrorene Konflikte» als Machtinstrument zur regionalen Einflussnahme auf ehemalige Sowjetrepubliken und deren Abspaltungen gehört zum Grundrepertoire russischer Außenpolitik. Wenn es sich anbietet, wird der Interessenschutz der russischen Bevölkerung als Rechtfertigungsgrund angeführt, auch wenn, wie in Transnistrien, keine überwiegend russische Bevölkerung gegeben ist. Stellenweise trägt Russlands Präsenz durchaus zu einer gewissen Stabilität bei. Die Annexion der Krim zog indes im Südosten der Ukraine verheerende Folgen nach sich. Trotz gegebener Konflikte innerhalb der Ukraine wäre ohne russische Militärhilfe niemals ein Krieg ausgebrochen, zumal mit solch einer drastischen Dimension.

Es ist zweifelhaft, dass es im Kreml jemals ein ernsthaftes Interesse an einer Einverleibung des Donbass gab. Aber der Plan, die Ukraine zu destabilisieren und insbesondere die Führung in Kiew zu schwächen, ist jedenfalls aufgegangen. Dazu stellt sich die Frage nach der propagandistischen Verwertbarkeit außenpolitischer Einflussnahme zugunsten innenpolitischer Stabilität in Russland. Die Krim verschaffte Präsident Wladimir Putin ungeahnten Rückhalt in der Bevölkerung, was gerade in der aktuellen wirtschaftlichen Krise einen wertvollen machtpolitischen Faktor darstellt.

… Abspaltungsverbot nach Innen

Separatistische Tendenzen im eigenen Land unterbindet die russische Regierung ihrerseits mit allen Mitteln. Zwei Tschetschenien-Kriege haben für ein deutliches Abschreckungspotenzial gesorgt. Wenngleich mit diesen, aber auch durch hohe Subventionen aus Moskau, auf absehbare Zeit die Gefahr der Abspaltung Tschetscheniens gebannt ist, hat der Kreml nie eine volle Integration dieser Republik erreicht. Formal zur Russischen Föderation gehörend, lebt die Kaukasusrepublik nach eigenen Regeln. Und auch das benachbarte Dagestan gilt vielen russischen BürgerInnen de facto als Ausland. Das trifft ebenso auf andere periphere Regionen wie Tuwa zu, deren lokale politische Führungen separatistische Bewegungen unterstützen und gleichzeitig Moskau gegenüber als Machtgarant auftreten. So brachte es ein Staatsanwalt in St. Petersburg fertig, einem Mann aus Tuwa vorzuwerfen, sein russischer Pass sei gefälscht, da es in Russland keine Tuwiner gäbe (nicht-slawische Gruppe in Südsibirien). Mit solchen Problemen sehen sich viele Angehörige nationaler Minderheiten in Russland konfrontiert.

Russlands Umbau zum Nationalstaat, wie ihn sich so mancher Nationalist auf die Fahne geschrieben hat, würde das Ende des imperialen Vielvölkerstaats bedeuten. Auf einer kulturellen Ebene lassen sich durchaus Anzeichen für den Zerfall des riesigen Landes beobachten. Der Staat reagiert seit den Ereignissen in der Ukraine verschärft mit strafrechtlichen Maßnahmen. Am 9. Mai 2014 trat ein Gesetz in Kraft, das für öffentliche Aufrufe zur Abspaltung von Russland bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug vorsieht. Seither findet der Paragraf rege Anwendung. Darja Poljudowa, eine linke Aktivistin aus dem südrussischen Krasnodar, sitzt derzeit eine zweijährige Haftstrafe ab. Dem Urteil liegt unter anderem die Weiterveröffentlichung einer eher satirischen Nachricht zugrunde, wonach ethnische UkrainerInnen aus der Region Krasnador den Beitritt zur Ukraine fordern. Betroffen sind jedoch auch Krimtataren. Ein Ingenieur aus Twer wurde für die Weiterveröffentlichung eines Artikels zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Autor des Artikels war zu dem Schluss gekommen, Russland lasse sich nicht demokratisieren, sondern müsse komplett aufgelöst werden.

ute weinmann

iz3w Nr. 355

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