In Russland sind Fernfahrer erneut und besser organisiert als je zuvor in den Streik getreten. Die Massenproteste gegen Korruption zogen viele junge Menschen an.
Russlands vielgepriesene Stabilität ist fragiler, als es auf den ersten Blick scheinen mag, und das schon lange. Bereits im November 2015 machten russische Trucker mit ihrem Protest gegen die Einführung einer Mautgebühr für LKW auf sich aufmerksam, aber ihre Netzwerke befanden sich erst im Aufbau. Inzwischen sind sie mit der neu gegründeten Vereinigung russischer Transportunternehmer (OPR), die über 10 000 Mitglieder umfasst, und einigen kleineren regionalen Verbänden wesentlich besser für einen langen Arbeitskampf gerüstet. Seit dem 27. März befinden sie sich im Streik. Das Ziel lautet, den Güterverkehr auf der Straße so weit wie möglich lahmzulegen, um die Regierung zu Zugeständnissen zu bewegen. Die Maut soll abgeschafft werden, denn derzeit profitiert davon in erster Linie Igor Rotenberg, der Sohn eines der engsten Freunde des russischen Präsidenten. Aber es geht den Fernfahrern auch darum, die Willkür der Kontrollinstanzen auf den Straßen zu beenden und gegen die schleichende Monopolisierung des Transportsektors vorzugehen.
Im ganzen Land stehen LKW am Straßenrand oder bleiben auf ihren Stellplätzen. In Dagestan beteiligen sich laut Aussagen des dortigen Koordinators über 90 Prozent der Fahrer an dem Streik. Sie entscheiden in jeder Region darüber, wie sie vorgehen wollen. An manchen Orten fanden Kundgebungen statt und langsam fahrende LKW-Kolonnen schränkten den Straßenverkehr ein. Wenige Tage vor Streikbeginn lud Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew loyale Transportunternehmer zu Gesprächen ein; die OPR war nicht geladen. Am Folgetag verkündete die Regierung ihre Entscheidung, die in einer Erhöhung der Maut Mitte April um 25 Prozent besteht.
Den Streik konnte sie damit nicht verhindern, weshalb repressive Mittel zum Einsatz kamen. Die Polizei nahm Andrej Baschutin, den Vorsitzenden der OPR in St. Petersburg, wegen Fahrens ohne Führerschein fest – pikanterweise war ihm die Fahrerlaubnis zeitweilig entzogen worden, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen. Es folgte eine Verurteilung zu 14 Tagen Haft, die in der Revision auf fünf verkürzt wurde. In der Zwischenzeit versuchte das Jugendamt, Baschutins minderjährige Kinder in Gewahrsam zu nehmen, während es seine schwangere Frau im Krankenhaus wähnte. Die Nachbarn sorgten dafür, dass die Kinder zu Hause bleiben konnten.
Fast gleichzeitig regte sich Widerstand auch andernorts. Es brauchte lediglich einen Anlass, um am 26. März russlandweit über 60 000 Menschen gegen Korruption zu mobilisieren. Aleksej Nawalnyj, ambitionierter Oppositionspolitiker und Gründer des 2011 ins Leben gerufenen Fonds gegen Korruption, hatte ein Video veröffentlicht, das seither über 15 Millionen Mal angesehen wurde, das den engen und loyalen Freundeskreis von Ministerpräsident Medwedjew und dessen riesige Vermögenswerte unter die Lupe nimmt. Die russische Regierung ignorierte den Fall und Medwedjew trat weiterhin mit seinem Plüschbärenlächeln in Erscheinung, als wäre nichts geschehen.
In manchen Städten erteilten die lokalen Behörden eine Genehmigung für Kundgebungen, in Moskau tun sie sich damit traditionell äußerst schwer. Sie zögerten ihren Widerspruch so lange hinaus, bis laut Gesetz der Veranstalter am beantragten Ort seine Aktion durchführen durfte. Die Polizei und die vor einem Jahr gegründete Nationalgarde sahen dies anders. Allein in Moskau kam es zu über 1 000 Festnahmen, wobei in nicht wenigen Fällen zufällig sich in der Nähe der Demonstration aufhaltende Passanten unter die Räder gerieten. Viele Medien berichteten über die auffällige Präsenz von jungen Demonstranten, insbesondere Schülern. Von der klaren Bildsprache Nawalnyjs und dessen einfache Botschaften verbreitenden Internetauftritten fühlen sich viele Jugendliche angesprochen, die den zunehmend ideologisch geprägten Weisheiten des Schulalltags zu entkommen versuchen.
In sozialen Netzwerken riefen Schüler eigenständig zur Teilnahme an den Protesten auf. Mitte März führte dies dazu, dass die Polizei im Brjansker Gebiet einen Schüler direkt aus dem Unterricht mitnahm. Die anschließend von der Schuldirektorin abgehaltene Politiklehrstunde landete als Video im Netz und dürfte so manchen angehenden Oppositionellen erst recht zur Teilnahme an den Antikorruptionsaktionen angestachelt haben. Seither sehen sich Schüler und Studenten vermehrt politischen Erziehungsmethoden ausgesetzt, die jedoch wenig Wirkung zeigen. Junge Leute mit dem Chaos der neunziger Jahre einzuschüchtern, wirkt mindestens realitätsfremd. Für Schüler ist es die erste Teilnahme an Massenprotesten, denn ihre Generation hat die Demonstrationen der Jahre 2011 und 2012 noch verpasst. Sie sind auch nicht von den Enttäuschungen nach dem Scheitern früherer Kämpfe über das Putin-Regime geprägt.
Von Jugendprotest kann dennoch keine Rede sein. Auf der Straße waren alle Altersgruppen vertreten. Auch wäre es falsch, die Demonstrierenden als Anhänger Nawalnyjs abzutun. Nicht Nawalnyj hat die Menschen auf die Straße gebracht, sondern die politischen und ökonomischen Zustände, der Hass auf die Führungsschicht, die das Land als Selbstbedienungsladen auf Kosten der Bevölkerung verwaltet. Die Empörung angesichts maßloser Korruption stellt jedoch noch kein Programm dar und es ist offen, in welcher Form und mit welchen Inhalten sich die politisch diffuse Antikorruptionsbewegung weiter entwickeln wird. Erste Maßstäbe in dieser Richtung setzte Nawalnyj, als er im Herbst sein in klassischer populistischer Manier nationalistisches, aber auch soziale Fragen aufgreifendes Programm für seine wenig wahrscheinliche Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2018 präsentierte.
Was die Fernfahrer mit ihrer Organisierung und zunehmenden Politisierung bereits erreicht haben, steht den gegen Korruption Protestierenden noch bevor: die Bildung von Interessenvertretungen mit einem klaren Profil, die auch jenen zu einer Stimme verhelfen können, die bislang bestenfalls durch kleine unabhängige Gewerkschaften repräsentiert werden. Die Mär vom Mittelklasseprotest hat sich jedenfalls erledigt.
ute weinmann