Bis heute ist Antijudaismus in der orthodoxen Kirche verbreitet
«Die Christen haben überlebt, obwohl uns die Vorfahren von Boris Wischnewski und Maksim Reznik in Kesseln gekocht und den Tieren zum Fraß vorgeworfen haben.« Das sagte kürzlich der Dumaabgeordnete Witali Milonow, Mitglied von Putins Partei Einiges Russland, nach einer Kreuzprozession um die St. Petersburger Isaakskathedrale über zwei jüdische Lokalpolitiker der liberalen Oppositionspartei Jabloko.
Die beiden Abgeordneten des Stadtparlaments hatten sich dagegen ausgesprochen, dass die Kirche, die sich seit Jahrzehnten in staatlicher Hand befindet und als Museum dient, der Russisch-Orthodoxen Kirche zurückgegeben werden soll.
Wenn es um seine Glaubensdogmen als orthodoxer Christ geht, kennt Milonow keine Zurückhaltung. In der Vergangenheit fiel er immer wieder durch unzweideutige Gesten auf, beispielsweise durch das Tragen eines T-Shirts mit der Aufschrift »Orthodoxie oder Tod«.
Aufgrund vielfach geäußerter Kritik sah sich Milonow schließlich gezwungen, seine Worte zurückzunehmen. Er habe die Juden gar nicht gemeint, redete er sich heraus und wies den Vorwurf des Antisemitismus von sich. Den erhob aber sogar der orthodoxe Erzpriester und Chefredakteur des St. Petersburger Kirchenradiosenders Grad Petrow, Alexander Stepanow. Er drohte Milonow ein Strafverfahren an. Sein Verhalten schade der Kirche, denn schließlich trete er nicht nur als Politiker, sondern auch als aktives Kirchgemeindemitglied in Erscheinung.
Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, ergriff zum Thema Isaakskathedrale unlängst erstmals persönlich das Wort. Im Jubiläumsjahr der Russischen Revolution gerate die Übergabe der Kirche zum Symbol der Versöhnung orthodoxer Christen mit der nichtreligiösen Bevölkerung, sagte er.
Bis auf Weiteres sorgt das Moskauer Patriarchat mit dieser Strategie jedoch eher für Zwistigkeiten. Milonow ist nämlich bereits der zweite hochrangige Politiker, der die heftigen Proteste gegen den Deal mit der Kirche mit antisemitischen Zuschreibungen diffamiert. Mit seiner Affinität zu antisemitischen Denkweisen steht Milonow innerhalb der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht allein.
Das Moskauer Patriarchat vertritt zwar nicht alle Orthodoxen in Russland, doch es verteidigt seine Vormachtstellung mit allen Kräften. Antijudaismus ist fester Bestandteil der orthodoxen Kirchenlehre, und in ihrem zähen Konservatismus tut sich die Kirche schwer, jahrhundertealte Dogmen einer Revision zu unterziehen. Beobachter gehen davon aus, dass antisemitische Einstellungen im kirchlichen Umfeld verbreiteter sind als im säkularen Teil der russischen Gesellschaft.
Daneben existiert in Kirchenkreisen auch ein fortschrittlicher, weltgewandter Flügel, der Kontakt zu liberalen Parteien oder Menschenrechtsorganisationen pflegt. Konflikte mit der Kirchenhierarchie sind dabei vorprogrammiert. Wunde Punkte, zu denen auch das eigene Verhältnis zum Judentum zählt, ignoriert die wenig reformfreudige Kirchenführung am liebsten.
Nikolaj Mitrochin, Historiker und Experte für die Russisch-Orthodoxe Kirche, vertritt die These, dass das Thema Antisemitismus für die Kirchenführung schon seit geraumer Zeit kaum noch eine Rolle spielt. Dafür nennt er zwei Gründe: Zum einen haben in den vergangenen 25 Jahren viele Juden Russland verlassen und stünden mit nationalen Minderheiten in keinerlei Konkurrenz mehr, was den Zugang zu Machtressourcen betrifft. Zum anderen gebe es heute unter russischen Juden nicht wenige, die enge Kontakte zur Machtelite unterhielten. Im Kirchenapparat fänden sich dabei sowohl radikale Antisemiten als auch explizite Philosemiten, die jeweils aber nur eine Minderheit darstellten.
Nur wenige treten in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Zu den radikalen Antisemiten zählt der Diakon Andrej Kurajew, bekannt auch als Autor eines Buches mit dem Titel Wie man zu einem Antisemiten gemacht wird. Gegenüber dem Moskauer Kirchenoberhaupt übt Kurajew sich allerdings in Oppositionshaltung und tritt deshalb nicht als offizieller Sprecher auf.
Nichtsdestoweniger sendet Patriarch Kyrill der kirchlichen Basis gelegentlich überaus deutliche Signale ganz im Sinne des traditionsbewusstesten Teils der Gläubigen und des Klerus. So verneigte sich Kyrill beim ersten Besuch eines Oberhaupts der Russisch-Orthodoxen Kirche im katholischen Polen 2012 in Bialystok vor den heiligen Gebeinen des Märtyrers Gavriil.
Wer sich in der Unzahl der Heiligen nicht auskennt, wird sich bei dieser religiösen Geste nicht viel denken. Doch es handelt sich bei Gavriil um einen orthodoxen Jungen, der Ende des 17. Jahrhunderts – laut innerhalb der Kirche nie hinterfragter Überlieferung – einem sogenannten jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen sein soll.
Es hätten sich in Polen sicherlich genügend andere Orte zur Erinnerung an zu Tode gequälte Menschen orthodoxen Glaubens finden lassen. Ein Besuch beispielsweise in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz stand nicht auf Kyrills Programm.
Der Holocaust ist für die Russisch-Orthodoxe Kirche ohnehin ein schwieriges Thema. Anfang der 90er-Jahre gab es Versuche, Denkansätze der Theologie nach Auschwitz in die orthodoxe Gotteslehre einzubringen – doch sie waren zum Scheitern verurteilt. Zudem verging einige Zeit, bis das Moskauer Patriarchat den Dialog mit jüdischen Organisationen suchte.
Kurz vor dem 65. Jahrestag des Kriegsendes bot das Oberhaupt der orthodoxen Kirche dem Russisch-Jüdischen Kongress schließlich doch seine Unterstützung bei der Suche nach Massengräbern von Juden an, die während des Krieges ermordet wurden. Zwei Jahre später besuchte Patriarch Kyrill die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Deutliche Worte gegen Antisemitismus in den eigenen Reihen und jenseits davon bleiben jedoch nach wie vor aus. Dafür fühlt sich die Kirche nicht zuständig.
ute weinmann
Jüdische Allgemeine