Murad Amrijew drohen Folter und Tod, weil sein Bruder von den tschetschenischen Behörden eines Anschlags beschuldigt wird.
Kurzzeitig sah es so aus, als könnte die Geschichte ein glückliches Ende nehmen. Am 4. Juni verließ Murad Amrijew, Weltmeister in Mixed Martial Arts, die Ukraine, ging nach Russland und wollte dort ein Schengen-Visum beantragen. Einige seiner Verwandten lebten in der Europäischen Union, er selbst flüchtete 2013 aus Tschetschenien in die Ukraine. Dass eine Rückkehr nach Russland zur Falle werden kann, ist vielen Tschetschenen zwar bewusst, aber Amrijew hatte bislang keine Probleme. Doch nun folgte die Brjansker Polizei einem Anfang Februar ausgeschriebenen Fahndungsgesuch und nahm Amrijew wegen Verdachts auf den Besitz falscher Dokumente fest. Der simple Grund dafür: In seinem Pass steht ein falsches Geburtsdatum, weil im Tschetschenien-Krieg seine Geburtsurkunde verlorenging und das Ersatzdokument Fehler enthält. Zwei tschetschenische Polizisten in Zivil, begleitet von maskierten Angehörigen von Spezialeinheiten waren bald zur Stelle und wollten den Inhaftierten umgehend übernehmen. Amrijew erkannte trotz der Maskierung einen Mann, der ihn vor seiner Flucht in einer Polizeiwache in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny gefoltert hatte.
Das nichtstaatliche »Komitee zur Vorbeugung von Folter« war mit seinem Fall gut vertraut und schaffte es rechtzeitig, Amrijew in Brjansk mit einem Anwalt beizustehen. Er kam aus der Haft und konnte seinen Verfolgern bis zur Grenze des benachbarten Belarus entkommen. Hier endete Amrijews Flucht in der Nacht zum 8. Juni. Einen Tag lang hielten ihn die belarussischen Grenzer fest, ohne einen Anwalt vorzulassen und ohne Amrijews Asylgesuch zur Kenntnis zu nehmen. Journalisten des oppositionsnahen russischen Kanals Rain TV konnten mit ihm lediglich durch ein Fenster Kontakt aufnehmen. Zwei Autokonvois setzten sich schließlich in der folgenden Nacht gen Russland in Bewegung, Journalisten und Menschenrechtler konnten nur einen im Auge zu behalten – bedauerlicherweise den falschen.
Am Mittag war es dann amtlich: Das tschetschenische Innenministerium teilte mit, Amrijew sei den Strafverfolgungsbehörden der Kaukasusrepublik übergeben worden. »Wir haben jetzt alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Generalstaatsanwaltschaft eingeschaltet und der Vorsitzende des Menschenrechtsrates hat sich der Sache angenommen«, sagte Oleg Chabibrachmanow vom »Komitee zur Vorbeugung von Folter« der Jungle World. In Grosny gab Amrijew eine Pressekonferenz – nicht ganz freiwillig. Alle Welt soll wissen, dass mit ihm korrekt umgegangen worden sei. Er wolle sein sportliches Talent nun in den Dienst seiner Heimat stellen, in der er jetzt sicher sei – und die er vorerst nicht verlassen darf.
Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow lässt seinen Vasallen beliebigen Spielraum für Gewaltexzesse, die zwar gerne mit der Wiederbelebung der Tradition der Blutrache erklärt werden, aber letztlich nur als Instrumente zum Machterhalt dienen. So ließ der Polizeichef von Grosny, Magomed Daschajew, Amrijew 2013 foltern – stellvertretend für dessen Bruder, den Daschajew verdächtigt, hinter einem Anschlag auf ihn selbst zu stehen. Der Bruder lebte damals bereits in Deutschland. Ob der Anschlag stattfand, darf bezweifelt werden, ein Strafverfahren wurde jedenfalls nie eingeleitet. Doch wenn Kadyrows Apparat jemanden verfolgen will, interessieren solche juristischen Nebensächlichkeiten weder die tschetschenischen Behörden noch die russischen oder, wie sich nun zeigt, die belarussischen.
Zumal die russische Regierung sich die Pflege der nachbarschaftlichen Beziehungen einiges kosten lässt. So wurde just am frühen Morgen des 8. Juni die Nachricht veröffentlicht, dass Belarus von Russland noch vor Ende Juni einen Kredit über 700 Millionen Dollar erhalte. Welche Art von Beziehungen sich Russland wünscht, führt die Sonderoperation Amrijew deutlich vor Augen. Die EU versucht derzeit, ein Rücknahmeabkommen mit Belarus zu vereinbaren, und will in den kommenden Jahren sieben Millionen Euro für den Bau von Internierungslagern für Flüchtlinge überweisen. Die Verhandlungen stocken, doch Polen verweigert tschetschenischen Flüchtlingen, die zu Hunderten in Brest festsitzen, vorsorglich jetzt schon die Einreise.
ute weinmann