In Russland wurde der Nationalfeiertag am 12. Juni zum Tag oppositioneller Proteste. Der Streik der Lastwagenfahrer dauert an, sie wollen nun einen Präsidentschaftskandidaten aufstellen.
Der »Tag Russlands« gehört in Russischen Föderation zu jenen Tagen, die arbeitsfrei und von höchster staatlicher Relevanz sind. Aber weniger als die Hälfte der Bürger und Bürgerinnen kennt den Anlass für den Feiertag. Am 12. Juni 1990 einigte sich der Kongress der Volksdeputierten der damals noch existierenden Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik nach heftigen Debatten darauf, die Unabhängigkeit der einzelnen Sowjetrepubliken anzuerkennen. Russland folgte lediglich dem allgemeinen Trend, der 1988 mit der Unabhängigkeitserklärung Estlands seinen Anfang genommen hatte und nach der als »Parade der Souveränitäten« in die Geschichte eingegangenen Absage an das »sozialistische« Miteinander mit dem Zerfall der Sowjetunion endete. Es ist für die Anhänger eines imperialen Russland kein ruhmreicher Tag, und ihn mit patriotischen Sinn zu füllen, ist bislang keiner Staatsführung so recht gelungen.
Dieses Tauziehen haben die Cops verloren. Foto uw
Dieses Mal kam alles anders. Für Moskaus Innenstadt hatten sich die Behörden ein Festival ausgedacht, auf dem sich die Menschen als Wikinger oder Offiziere des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) verkleiden und mit Symbolen aus diversen historischen Epochen schmücken sollten. Den Besuchern eröffnete sich in unmittelbarer Nähe zum Kreml eine Parallelwelt, in die unerwartet die Realität Einzug hielt. Der nationalistische Antikorruptionspolitiker Aleksej Nawalnyj hatte eine Kundgebung für den Feiertag angemeldet, die auf Betreiben der Stadtverwaltung im üblichen Oppositionsformat vonstatten gehen sollte: abseits des öffentlichen Interesses und eingezwängt hinter Absperrungen. Da sich auf Druck der Behörden keine Firma bereiterklärt hatte, eine Bühne oder eine Lautsprecheranlage aufzubauen, verlegte Nawalnyj seine Veranstaltung am Vorabend kurzerhand an den Ort des Historienspektakels. Unbedarfte staatstreue Bürger konnten sich so den Protesten nicht mehr entziehen, sondern nahmen ungewollt Teil daran.
Nawalnyj, der vor Beginn der Protestkundgebung vor seinem Haus festgenommen und zu 30 Tagen Haft verurteilt wurde – in zweiter Instanz wurden ihm fünf Tage erlassen –, handelte sich mit seinem Alleingang herbe Kritik ein. Tausende folgten dennoch seinem Aufruf, vor allem Schüler und Studierende, also Angehörige der Generation, deren Eltern sich im Russland der steigenden Öleinnahmen eingerichtet hatten, jetzt unter der Wirtschaftskrise leiden und sich durch Passivität auszeichnen. Die jungen Russinnen und Russen wurden im patriotischen Geist erzogen, müssen jedoch feststellen, dass nicht sie Nutznießer der Größe Russlands sind, sondern eine durch und durch korrupte Führungsschicht.
Andere Oppositionelle blieben zu Hause oder begaben sich zum eigentlichen Kundgebungsort. Dort tauchte auf Betreiben der Stadt doch noch eine Bühne mit Lautsprechern auf, so dass die Kritiker des gigantischen Umsiedlungsprogramms, das Moskau bevorsteht, die sich größerenteils hier eingefunden hatten, ihre Kundgebung ohne Nawalnyj abhalten konnten.
Zur gleichen Zeit begann ein paar Kilometer weiter die Polizei mit der Festnahme von als Regimegegnern identifizierten Personen. Manche riefen »Putin ist ein Dieb«, andere sangen die Nationalhymne oder trugen eine russische Fahne, aber in den meisten Fällen suchten die dick eingepackten und behelmten Polizisten junge Protestierende heraus, die nur herumstanden. Als Angehöriger der Spezialeinheit Omon mit einschlägiger Erfahrung tat sich Sergej Kusjuk hervor, der seinerzeit auf dem Maidan in Kiew noch im Dienste der ukrainischen Spezialeinheit Berkut seinem Geschäft nachgegangen war.
Es gab insgesamt 1769 Festnahmen, vor allem in Moskau (866, darunter 136 Minderjährige) und in St. Petersburg (658). Die Gerichte verurteilten die meisten Festgenommenen zu fünf bis 15 Tagen Haft zuzüglich einer Geldstrafe. Aber es sind auch noch Strafprozesse gegen vermeintliche jugendliche Gewalttäter zu erwarten, an denen die Staatsmacht ein Exempel statuieren will. Der »Tag Russlands« hat sich anders entwickelt als erwartet. Die Provokateure, so das Resümee der Stadtverwaltung, hätten den Feiernden die Laune verdorben.
Was die Menschen wirklich auf die Straße treibt, ist den Machthabern keinen Kommentar wert. Diese Lektion kennen jene nur zu gut, die seit Jahren oder auch erst seit einigen Monaten verzweifelt versuchen, auf ihre Probleme aufmerksam zu machen: Extrem hohe Wohnnebenkosten, die in keinerlei Verhältnis zur erhaltenen Leistung stehen, wachsende Verschuldung durch steigende Zinsen, der bevorstehende Abriss intakter Wohnhäuser, der das verbriefte Recht auf Privateigentum ad absurdum führt, während viele Menschen teils seit Jahrzehnten in baufälligen Häusern leben müssen, ohne Perspektive auf einen diese Bezeichnung verdienenden Wohnraum. Jeder gesellschaftliche Missstand in Russland bringt Protestgruppen und soziale Bewegungen hervor, die alle mit der Ignoranz der Macht zu kämpfen haben. Wagen sie sich zu weit vor, setzt es Hiebe mit dem Polizeiknüppel.
Keiner sozialen Bewegung gelang es jedoch, eine treibende Kraft zu werden – mit einer Ausnahme: die seit dem 27. März streikenden Trucker.
Sichtbare Erfolge im Kampf gegen die Einführung einer Mautgebühr können sie bislang zwar kaum verbuchen, aber sie lassen die Zeit nicht ungenutzt verstreichen. Weil der Großteil der Bevölkerung wegen der staatlichen Strategie des Totschweigens ihren Kampf nicht wahrnehmen kann, gehen sie in die Offensive. Die streikenden LKW-Fahrer haben verstanden, dass soziale Kämpfe unter den derzeitigen Gegebenheiten aussichtslos bleiben, und ändern ihre Strategie. Ab jetzt wird Politik gemacht und nicht mehr einfach nur Protest angemeldet. Anders als Nawalnyj, der sich als Alternative zu Präsident Wladimir Putin inszeniert und es wie dieser schafft, den Fokus der Medien auf seine Person zu richten, agiert die Basisbewegung der Trucker: Sie sind weit über die Logistikbranche hinaus vernetzt. Mitte Juni gab der Vorsitzende der Vereinigung russischer Transportunternehmer (OPR), Andrej Baschutin, seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl 2018 bekannt. Die Mitglieder haben das so entschieden.
Vermutlich werden weder Baschutin noch Nawalnyj zur Wahl zugelassen. Aber die OPR versucht zumindest, das Demokratiedefizit in der russischen Politik anzugehen. Ein Verdienst, das die liberale Opposition nicht für sich in Anspruch nehmen kann.
ute weinmann