Brandtragödie im russischen Kemerowo schlägt Wellen
Nach dem Brand am vergangenen Sonntag im Einkaufszentrum »Winterkirsche« im sibirischen Kemerowo zeichnet sich ein verheerendes Bild ab. 64 Menschen haben ihr Leben verloren, zwei Drittel davon sind Kinder. Selten schlägt eine der vielen Katastrophen, die in Russland regelmäßig etliche Todesopfer fordern, so hohe Wellen. Von Schlamperei und Fahrlässigkeit ist die Rede. Schnell sind die Schuldigen gefunden. Fünf der mutmaßlichen Verantwortlichen für die hohe Opferzahl befinden sich in Untersuchungshaft, darunter die Generaldirektorin der Betreiberfirma, Nadeschda Suddenok, und Angehörige des Sicherheitspersonals. Aber die bislang bekannten Mängel deuten auf eine systematische Missachtung grundlegender Sicherheitsregeln hin, die nicht nur für die »Winterkirsche« symptomatisch sind.
Es gab keinen Brandalarm und die Notausgänge in dem Gebäude der ehemaligen Konditoreifabrik, das erst seit 2013 zum Freizeit-Shopping-Zentrum umfunktioniert worden war, waren verriegelt. Das Personal blieb untätig. Ein Security-Mitarbeiter sagte aus, die Feuerwarnanlage habe häufig Fehlalarm gemeldet und war immer wieder außer Betrieb.
Eine Woche vor dem Brand wurde sie nach einer Rauchmeldung komplett abgeschaltet. Das Löschsystem enthielt nicht einmal Wasser. Die für den Brandschutz zuständige Firma beschäftigte Personal ohne entsprechende Qualifikation und der diensthabende Wachmann gab zu Protokoll, er habe angesichts des für alle unerwartet eingetretenen Notfalls den Überblick verloren. In einem der Kinosäle im obersten Stock waren nach Angaben von Augenzeugen, die mit ihren Angehörigen unmittelbar vor deren Tod in Telefonkontakt standen, alle Ein- und Ausgänge verschlossen. Eine gängige Praxis, die verhindern soll, dass sich Kinoliebhaber ohne Ticket in den Saal schleichen. Nach einer anderen Version habe ein Mann die Türen von innen verschlossen, um die Anwesenden bis zur Ankunft der Feuerwehr vor der Rauchentwicklung zu schützen.
Hinter diesen Verstößen lässt sich das Prinzip der gnadenlosen Profitmaximierung erkennen, wie es sich in Russland in den 1990er Jahren etabliert hat und an dem etliche Abgeordnete und Staatsdiener auf unterschiedlichen Ebenen kräftig mitverdienen. Allein die daran ausgerichtete Bauplanung und fragwürdige Genehmigungsverfahren machen Shopping-Zentren zu lebensgefährlichen Orten.
Grigorij Rewsin, Architekturkritiker und ehemaliges Mitglied im Moskauer Stadtbaubeirat, forderte auf den Bau neuer Megaeinkaufszentren ganz zu verzichten und keine Freizeitangebote für Kinder in bestehenden zuzulassen. Er begründet dies mit der gängigen Verwendung billiger und brandgefährlicher Deko- und Baustoffe und nicht miteinander zu vereinbarenden Zielsetzungen. Einer schnellen Evakuierung im Brandfall stehe das kommerzielle Interesse entgegen, Besucher längstmöglich im Gebäude flanieren zu lassen, ohne auf einen Ausgang zu treffen. Vorschriften zur Terrorbekämpfung sehen ebenfalls eine deutlich eingeschränkte Bewegungsfreiheit vor.
Am vergangenen Dienstag wollten die Einwohner von Kemerowo Gouverneur Aman Tulejew zur Rede stellen, doch er erschien nicht. Er hatte sich nur vor Präsident Wladimir Putin für die Tragödie entschuldigt und die aufgebrachte Menge auf der Straße abschätzig als »Krawallmacher« bezeichnet.
ute weinmann