Unterm Existenzminimum

Arbeiten in Russland bringt wenig Verdienst und Rechte

In Russland arbeiten viele Beschäftigte immer mehr für immer weniger Geld. Gerade im Bildungs- und Gesundheitssektor erreichen die unteren Löhne nicht immer das Existenzminimum.

Lohnarbeit macht in der Regel nicht reich, sie sollte jedoch die existenziellen Lebenshaltungskosten decken. Der staatlich festgelegte Minimallohn in Russland beträgt im Durchschnitt allerdings nur 137 Euro. Das liegt noch unter dem Wert, den der Staat für das Existenzminimum ansetzt. Maximal 85 Prozent der errechneten monatlichen Kosten werden damit gedeckt. Zwar plant die Regierung seit Jahren eine Angleichung. Präsident Wladimir Putin verfügte unlängst eine Anhebung auf hundert Prozent bis zum 1. Mai. Profitieren würden davon bis zu fünf Millionen ArbeitnehmerInnen. An sich stellt der Minimallohn eine reine Rechengröße dar, mit der Krankengelder, staatliche Sozialleistungen und das Arbeitslosengeld bemessen werden. Nicht nur im europäischen Vergleich nimmt das an Rohstoffen reiche Russland hier einen beschämenden Platz weit unten in der Skala ein. Anstatt den Minimallohn an den realen Löhnen und Gehältern zu orientieren, deren Mittelwert in Russland bei 570 Euro liegt, dient das Existenzminimum als Richtschnur.

Für die reichste Stadt, Moskau, errechnete das Statistikamt im vergangenen Jahr einen Durchschnittslohn von 1.300 Euro, während die Wirtschaftsverwaltung mit 1.000 Euro einen niedrigeren Wert errechnete. Alle Mittelwerte sind mit Vorsicht zu genießen, weil die prekären Stellen im Niedriglohnsektor kaum Berücksichtigung finden. In Moskau kann man in manchen Branchen Unsummen verdienen – direkt neben Monatslöhnen von 170 Euro, wie etwa bei einer Laborangestellten in einer medizinischen Hochschule. Wer da keinen Nebenjob hat, oder mit Untervermietung oder anderweitig den Lohn aufbessern kann, hat Pech gehabt.

Die existenziellen Lebenshaltungskosten werden in Russland anhand eines Warenkorbs berechnet und mehrmals pro Jahr an etwaige Preissteigerungen angepasst. Für Moskau veranschlagt der Staat derzeit 280 Euro monatlich, für die autonome Republik Kalmückien 120 Euro. Die restlichen 83 russischen Regionen liegen irgendwo dazwischen. Wer weniger verdient gilt als einkommensschwach. Nach Schätzungen von Tatjana Golikowa, der Chefin des Rechnungshofes, trifft dies auf über 20 Millionen Menschen in Russland zu, also auf etwa 14 Prozent der Bevölkerung. Sie leben jenseits der Armutsgrenze, wenngleich die russische Gesetzgebung offiziell keinen Armutsbegriff kennt. Wer glaubt, bei den Betroffenen handele es sich vorrangig um Arbeitslose, irrt sich. Die regulären Beschäftigungsverhältnisse erzeugen Armut, insbesondere dann, wenn der russische Staat als der weitaus größte Arbeitgeber in Erscheinung tritt.

Die Arbeitslosigkeit liegt nach offiziellen Angaben bei fünf Prozent. Aber behördliche Zahlen spiegeln in Russland die Realität nur bedingt wider. Tatsächlich liegt die Quote weitaus höher – wie hoch genau kann niemand zuverlässig nachweisen. Umfragewerte lassen auf über zehn Prozent schließen. Eine Meldung beim Arbeitsamt ergibt nur dann Sinn, wenn jemand über keinerlei Rücklagen verfügt. Mit Ausnahme von mit speziellen finanziellen Anreizen in klimatisch eher unattraktiven Regionen im äußersten Norden und Osten Russlands, beträgt die maximale Summe der Unterstützung 70 Euro, und auch das nur vorübergehend. Wer nach einem Jahr keinen neuen Job findet erhält gar kein Geld mehr. Nach sechs weiteren Monaten erwerben Langzeitarbeitslose einen Anspruch auf zwölf Euro pro Monat.

Bizarre Bezahlung bei Lehrkräften

Als Putin 2012 das Präsidentenamt wieder übernommen hatte, veranlasste er die Gehälter in den traditionell schlecht bezahlten Berufen im Lehr- und Gesundheitsbereich entsprechend der regionalen Durchschnittseinkommen stark anzuheben. Da die öffentlichen Haushalte angesichts der Wirtschaftskrise auf Mehrausgaben nicht eingestellt waren, bereiteten die Verordnungen von ganz oben den zuständigen Behörden Kopfzerbrechen. Eine klassische Option bietet die Zusammenlegung von Stellen auf weniger Arbeitskräfte oder das Aufstocken der Stundenzahlen. Insgesamt kann die Bezahlung dabei sogar sinken. So ist auch immer häufiger zu hören, dass seit 2014 trotz Mehrarbeit weniger gezahlt wird.

Generell gilt für viele Bereiche, dass das Grundgehalt nur ein Minimum abdeckt und die ArbeitnehmerInnen auf die Prämien und Zuschläge in vollem Umfang angewiesen sind. Letztere lassen sich jedoch auch zurückhalten. Die Bezahlung von Lehrkräften orientiert sich landesweit an einer Unsumme kleiner Verpflichtungen, mit regionalen Unterschieden und Besonderheiten. Dabei findet beispielsweise Berücksichtigung, ob einzelne Formblätter termingerecht ausgefüllt werden oder zusätzlich zum gewöhnlichen Unterricht Maßnahmen zur patriotischen Erziehung stattgefunden haben. Lehrkräfte werden in Abhängigkeit von der jeweiligen Klassengröße bezahlt.

Die unabhängige Gewerkschaft «Lehrer» versucht gegen die wachsende Ungleichbehandlung von Lehrkräften vorzugehen. Zwar wollen sich die wenigsten gewerkschaftlich organisieren, gleichzeitig kommt es immer häufiger zu lokalen Protestaktionen, jedoch selten mit Erfolg. Gerichte, die in Russland tendenziell zugunsten von ArbeitnehmerInnen entscheiden, üben sich immer mehr in Zurückhaltung. Eine Moskauer Lehrerin, die 39 Lehrstunden pro Woche unterrichtet – bei 18 für eine Stelle vorgesehenen – wollte vor Gericht die Bezahlung von drei Überstunden einklagen. Vergeblich.

Ab in die Schattenwirtschaft

Während sich medizinische Fachkräfte bei miserabler Bezahlung in staatlichen Polikliniken eine Stelle in privaten Praxen suchen können, haben LehrerInnen weniger Optionen. Schätzungsweise stocken 70 Prozent der praktizierenden LehrerInnen nebenher ihren Verdienst mit Nachhilfestunden auf. Innerhalb der vergangenen fünf Jahre verlagerten sich insgesamt die Einkommensbezüge wieder vermehrt in die Schattenwirtschaft. Deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt beträgt laut Berechnungen des IWF etwa ein Drittel. Die russische Akademie für Volkswirtschaft schätzt den Anteil an Beschäftigten, die dauerhaft oder übergangsweise im informellen Wirtschaftssektor tätig sind, auf fast 45 Prozent, das sind über 33 Millionen Betroffene. 23 Millionen erhalten ihren Lohn im klassischen Briefumschlag. Das hat eklatante Folgen für die (wegfallenden) Rechtsansprüche, beispielsweise bei den Renten.

Vielen wäre es lieber, sie könnten einer legalen, sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen. Das erklärt, weshalb ArbeitnehmerInnen selbst dann an ihrem Arbeitsplatz festhalten, wenn die Bezahlung unterhalb des Existenzminimums liegt. Doch nicht immer besteht diese Option. In den 1990er Jahren mussten viele RussInnen das Überleben unter kapitalistischen Vorzeichen lernen. Den Ausweg aus der Misere schien die Selbständigkeit zu bieten.

Mit Personen- und Frachtbeförderung als Selbständige ließ sich ein ausreichendes Grundeinkommen erwirtschaften oder sogar darüber hinaus. Inzwischen werden die kleinen Unternehmen zunehmend vom alles andere als freien Markt verdrängt. Ein selbständiger Fahrer eines Kleinbusses im Personennahverkehr, beispielsweise in Wolgograd, erhält als Einzelperson keine Lizenz für eine von der Stadt festgelegte Route. Daher vermietet er seinen Wagen an eine Firma, kassiert dafür Pacht und fährt als Angestellter für ein monatliches Honorar ohne Arbeitsvertrag. Eine Frau müsste sich in Russland übrigens so einen Job erst vor Gericht erstreiten, wenn der Wagen mehr als 14 Sitzplätze hat. Laut Regierungsbeschluss sind Frauen von 456 Berufen ausgeschlossen, die mit Blick auf die weibliche Reproduktion als gesundheitsschädlich und gefährlich gelten. Eine Lokomotive oder einen Lastwagen über 2,5 Tonnen zu steuern kommt nicht in Frage. Auch wenn Gewerkschaften punktuell die Einhaltung von Arbeitsrechten durchsetzen können, sind die russischen Werktätigen immer öfter gezwungen irreguläre Arbeitsverhältnisse einzugehen und Mehrarbeit zu leisten. Und das wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern.

ute weinmann

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