Völlig ausgeliefert

Verteidiger Witalij Tscherkasow im Interview über die Folterung von inhaftierten Antifaschisten durch russische Sicherheitskräfte


Der Jurist Witalij Tscherkasow
Foto: Ute Weinmann


Im vergangenen Oktober und zu Jahresbeginn wurden mehrere russische Antifaschisten festgenommen, weil sie Anschläge bei der anstehenden Fußball-Weltmeisterschaft geplant haben sollen. Während die Beweislage für die Vorwürfe äußerst dünn erscheint, zeigen sich bei den Verdächtigen deutliche Spuren von Folterung. Diese sollen ihnen Angehörige des Inlandsgeheimdienstes FSB zugefügt haben. Herr Tscherkasow, Sie waren als Anwalt in der Vergangenheit immer wieder mit dem Thema Folter durch russische Behörden konfrontiert. Nun vertreten sie den inhaftierten Wiktor Filinkow. Unterscheidet sich sein Fall von früheren?

Ich bin seit 2004 im Team der Organisation Agora tätig, das sich vorzugsweise mit Folter durch Polizeibeamte auseinandersetzt. Erst in den letzten Jahren sind Foltermethoden des FSB in unser Blickfeld gerückt. Ich war davon ausgegangen, dass beim FSB mehr Professionalität und ein gewisses intellektuelles Niveau vorherrscht, das erforderlich ist, um Ermittlungen korrekt zu führen. Doch im Fall meines Mandanten Wiktor Filinkow musste ich feststellen, dass sich die Vorgehensweise von FSB-Angehörigen kaum unterscheidet von dem, was sich auf einer gewöhnlichen Polizeiwache abspielt.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Damit meine ich zum Beispiel, dass eine Polizeipatrouille einen Journalisten in seinem Auto auf der Straße in St. Petersburg anhält, ihm Schläge versetzt und dabei drei Rippen bricht – und das ohne Konsequenzen bleibt. Ich habe erst kurz vor diesem Interview die sechste Beschwerde in diesem Fall fertiggestellt. Doch es passiert nichts, obwohl der für die laufenden Ermittlungen zuständige Beamte die Darstellung meines Mandaten nicht einmal leugnet.

Wie erklären Sie sich das brutale Vorgehen der Beamten, sowohl bei der Polizei als auch beim Geheimdienst?

Im russlandweiten regionalen Vergleich lässt sich ein schematisch identisches Vorgehen der Sicherheitsbehörden erkennen. Es hat seinen Ursprung bei den Antiterrormaßnahmen im Nordkaukasus. Angehörige des Sicherheitsapparats werden seit vielen Jahren aus ganz Russland zu Diensteinsätzen in den Nordkaukasus entsendet, wo Gewalt und Rechtsverstöße während der Ermittlungen an der Tagesordnung sind. Die dort erlebte Praxis setzen sie dann in ihren Heimatorten um.

Wie drückte sich diese Praxis bei Wiktor Filinkow aus?

Innerhalb der ersten Stunden nach einer gewaltsamen Festnahme befinden sich die Betroffenen in einer solchen Stresssituation, dass sie zwar ihre Rechte kennen mögen, aber dem Sicherheitsapparat völlig ausgeliefert sind. Zumal ihr Status unklar bleibt und sie niemanden zu Hilfe rufen können. Zu dem Zeitpunkt sind sie noch nicht verhaftet, nicht Zeuge. Dieser Zustand kann mehrere Stunden andauern oder gleich 30 Stunden wie bei Filinkow. Der Wille der Inhaftierten wird gebrochen und so die Bereitschaft erzeugt, Aussagen zu machen, auch Falschaussagen. Läge ausreichend Beweismaterial gegen meinen Mandanten vor, gäbe es keinen Grund für grausame Misshandlungen. Andererseits erhalten Schuldeingeständnisse bei Ermittlungen immer mehr Gewicht und in 99 Prozent der Fälle akzeptieren die Gerichte keine Rücknahme von Erstaussagen.

Und dennoch hat Filinkow seine Aussagen revidiert.

Richtig. Er distanziert sich vollständig davon, obwohl erneut großer Druck auf ihn ausgeübt wurde und ich ihm bei einem unserer Treffen klar gesagt habe, dass selbst eine breite Öffentlichkeit oder ich als sein Verteidiger nicht garantieren können, dass sich etwaige Exzesse nicht wiederholen.

Welche »Exzesse«? Was ist Wiktor Filinkow zugestoßen?

Ich habe schon vieles gesehen. Aber es hat mich schockiert, als ich Filinkow das erste Mal zu Gesicht bekam. Das war wenige Tage, nachdem er mit Elektroschocks gefoltert worden war. Sein ganzer rechter Oberschenkel war bis zur Hüfte mit Brandwunden übersät, anhand derer man erkennen konnte, dass er immer und immer wieder malträtiert worden war. Die anderen Körperteile habe ich nicht gesehen.

Wer ist für diese Verletzungen verantwortlich?

Filinkow hat zu Beginn seiner Untersuchungshaft einen der FSB-Fahnder als jene Person erkannt, nämlich Konstantin Bondarew, der den Befehl erteilt hatte, ihn im Wagen nach der Festnahme zu foltern. Bondarew sagte ihm deutlich, dass, sollte er nicht mit den Ermittlern kooperieren, eine Verlegung in eine der schlimmsten Untersuchungshaftanstalten erfolge. Dort könne niemand seine körperliche Unversehrtheit garantieren. Genau diese Verlegung ist eingetreten, nachdem wir einen Antrag stellten, Bondarew und weitere Personen von den Ermittlungen auszuschließen.

Hat solch ein Antrag denn Chancen auf Erfolg?

Nicht solange die zuständigen Stellen das Vorgehen der Fahnder nicht als gesetzeswidrig einstufen. Deshalb hat Bondarew nach wie vor freien Zugang zu meinem Mandanten. Ende April war eine Vernehmung beim FSB angesetzt. Dorthin brachte ihn Bondarew und er hat ihm erneut verbal gedroht. Filinkow hat sich geweigert, mit dem FSB-Ermittler zu sprechen, weil dieser in den ersten Stunden nach seiner Festnahme psychologischen Druck auf ihn ausgeübt hatte. Am Tag nach dem Termin hat mir Filinkow berichtet, dass Bondarew auf dem Rückweg ins Gefängnis ausgerastet ist und ihm mit Vergewaltigung gedroht hat. Filinkow hat das alles schriftlich festgehalten. Aber angesichts der fehlenden Kontrolle mache ich mir um ihn große Sorgen.

ute weinmann

nd

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