In einem ehemaligen Studentenwohnheim leben die unterschiedlichsten Bewohner.
Wo mehr als 1 000 Menschen Unterschlupf finden. Foto uw
Das ehemalige Studentenwohnheim ist ein 14stöckiger Betonklotz, auf jeder Etage zwölf kleine Balkone nebeneneinander. Es dürfte in den siebziger Jahren gebaut worden sein und wirkt etwas heruntergekommen. An der Fassade sind neue Rohrleitungen für Gas angebracht, eine verwegene Konstruktion, die deutsche Behörden durchdrehen lassen würde. Es ist eigentlich ein Studentenwohnheim der Staatlichen Iwane-Dschawachischwili-Universität Tiflis, das 960 Menschen Platz bieten sollte. Aber es sind keine Studis, die dort wohnen. Seit über 20 Jahren sind dort, je nach Sichtweise, Flüchtlinge oder internal displaced persons (Binnenflüchtlinge) untergebracht, überwiegend Menschen aus Abchasien, die vor den Kämpfen zwischen abchasischen Milizen und russischen Truppen auf der einen Seite und georgischen Truppen auf der anderen flohen.
Guliko, eine ältere Frau in schwarz-weißkariertem Rock und lila Jacke, wohnt im Gebäude nebenan, das ebenso gebaut ist und ähnliche Bewohner hat. Sie ist auf dem Weg, um Brot zu kaufen, und spricht uns an. Sie freut sich, dass sie sich auf Englisch unterhalten kann. Seit über 18 Jahren wohne sie hier, sagt sie. Sie habe in Abchasien an der Universität unter anderem Englisch gelehrt, spricht dazu aber neben Georgisch und Russisch auch Deutsch, ein wenig Italienisch, Spanisch und Esperanto. Seit sie in Tiflis wohne, sei sie auf Einladung ihres Bruders dreimal nach Abchasien gefahren. Zurück will sie nicht. »Das ist zu eng da«, sagt sie. »Mein Hobby ist Reisen.« Sie sei auch schon in der DDR gewesen, in Rostock und Berlin. Aber das ist lange her. Heute wäre eine Reise nach Deutschland einfacher, man braucht kein Visum mehr, dafür aber ein entsprechendes Einkommen.
Das ist schwierig für Guliko. Sie bekomme nur 180 Lari Rente, sagt sie. Aber mit ihren Sprachkenntnissen und ihrer Kontaktfreudigkeit holt sie sich die weite Welt zu sich. »Ihr müsst Michael kennenlernen«, sagt Guliko. »Er hat drei Hunde und kommt aus Amerika.« Sie zückt ihr Handy und ruft ihn an. Kurz darauf kommt er mit seinen Hunden aus dem Eingang: zwei schwarz-weiß gefleckte namens Mo und Mu und eine schwarze Hündin mit brauner Schnauze und weißen Pfoten.
Michael ist ein kräftiger, älterer Typ in Jeans und Muscle-Shirt mit Skynet-Logo. Er trägt einen weißen Vollbart und einen kleinen Pferdeschwanz aus den verbliebenenen Haaren. Früher habe er als Drehbuchautor in L.A. gelebt, aber da habe es zu viele in dem Job gegeben. Nach einem Zwischenaufenthalt in Genf habe er einen Freund in Tiflis besucht. Dort ist er gestrandet. Einige Monate hatte er keinen festen Wohnsitz. Auf der Straße habe er seine Hunde aufgesammelt, teils noch als Welpen. Nun versuche er, eine Crew zusammenzustellen, um Filme über Künstler in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu machen. Aber das sei schwierig. Es mangele an Geld und Filme in Georgisch würden nur ein kleines Publikum erreichen, Übersetzungen anzufertigen sei teuer. Und sein Computer, den er zum Schneiden brauche, mache Probleme, seit einer seiner Hunde ihn in die Pfoten bekommen habe.
Einer ihrer ehemaligen Deutschstudenten aus Abchasien habe Michael in der Innenstadt von Tiflis an einer Essensausgabestelle für Obdachlose angesprochen, erinnert sich Guliko später. Er habe ihr von dieser ungewöhnlichen Bekanntschaft erzählt, sie habe Michael zu sich eingeladen und dann dafür gesorgt, dass er im Haus eine feste Unterkunft bekommt.
»Vom Dach aus hat man einen tollen Blick über Tiflis«, sagt Michael. »Ich habe auch Ferngläser. Sollen wir hochfahren?« Na klar. Er bindet seine drei Hunde an einer Parkbank fest, sagt: »Könnt ihr auf sie aufpassen?« und zieht ab in seine Wohnung. Zwei weitere Hunde kommen, ein ohrenbetäubendes Tohuwabohu entsteht. Mit einem grauen Plastiksack kehrt Michael zurück, darin sind die Ferngläser. »Let’s go!«
Zwei klapprige Fahrstühle gibt’s in einer Ecke der Eingangshalle des Hauses. »Hat jemand noch eine Zehn- oder 20-Tetri-Münze?« fragt Guliko. Unter dem Tastenfeld des Aufzugs ist ein Schlitz, ohne Geldeinwurf setzt sich der Fahrstuhl nicht in Bewegung. Mit drei Hunden und zwei Personen in der winzigen Kabine wird die Fahrt nach oben zu einem scheppernden und leicht klaustrophobischen Erlebnis. Im 14. Stock ist Schluss. Durch einen unverputzten Gang mit Schutt geht’s um zwei Ecken, dann über eine schmale Treppe, teils ohne Geländer, aufs Dach.
An der Brüstung sind Satellitenschüsseln und abenteuerliche Antennenkonstruktionen befestigt. An einem Kamin lehnt ein alter Sessel, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Michael verteilt seine Ferngläser. »Das ist mein bestes Baby«, sagt er über ein Fernglas mit dreibeinigem Stativ. »70fache Vergrößerung!«
Der Blick über Tiflis ist atemberaubend. In der Ferne bewaldete Hügel, davor haufenweise Plattenbauten, rechts davon die Altstadt. Unterhalb des Wohnheims schlängelt sich ein schlammigbraunes Rinnsal durch einen mehrere Hundert Meter breiten Graben, die Vere. Nach schweren Unwettern war der Fluss im Juni vor drei Jahren über die Ufer getreten und hatte diverse Viertel von Tiflis überschwemmt. Das Bild eines Flusspferds, das bei dieser Gelegenheit wie andere Wildtiere aus dem Zoo ausgebrochen war und auf der überschwemmten Hauptstraße herumlief, machte international Furore.
Ganz in der Nähe führt eine kleine Seilbahn über den Flusslauf, unbeschäftigt hängen zwei weißblaue Gondeln über dem Rinnsal. Die Seilbahn wurde kürzlich repariert, aus unerfindlichen Gründen aber noch nicht wieder in Betrieb genommen. In weiterer Entfernung leuchtet knallrot eine frisch renovierte Brücke aus Beton und Stahl. Jenseits des Flusslaufs steht ein moderner halbrunder Wohnkomplex in gleißendem Weiß, dahinter ein Hochhaus und ein Wohnblock im Rohbau, nahebei sind mehrere große Universitätsgebäude verstreut, eines davon mit zwei Observatorien auf dem Dach. Diesseits des Flusses liegen einige Dutzend schicke Wohnhäuser und Villen an einem Hang, in einiger Distanz zu den Unterkünften der Normalsterblichen. »Das ist nur für die Reichen«, sagt Guliko. Sie zeigt auf eine neue kleine Straße direkt unterhalb des Dachs. »Saakaschwili« – von 2004 bis 2013 georgischer Staatspräsident mit autoritärer Tendenz – »hat nichts für uns getan«, sagt sie. »Die Straße hat erst die Regierung nach ihm gebaut. Jetzt können kleine Busse direkt bis vors Haus fahren.«
Auf dem Weg nach unten drückt jemand im Aufzug versehentlich auf eine Taste. Alle Knöpfe leuchten rot auf, rumpelnd bleibt der Fahrstuhl stehen. Einige Kinder, die in diesem Stockwerk auf der staubigen Fläche vor dem Aufzug spielen, machen große Augen, als die Fahrstuhltür sich öffnet. »Hat jemand noch eine Münze?« Eine letzte findet sich.
Der Abschied naht. »Hätte ich gewusst, dass ich hier solange festhänge«, sagt Guliko, »wäre ich nach Deutschland gegangen.«
ute weinmann, bernd beier