Von Einheitsfront keine Spur


Alle Macht den Arbeitern. Foto uw

Von Kampfstimmung ist die russische Linke derzeit weit entfernt. Davon war schon nicht mehr viel zu spüren, als Ende September die Abgeordneten der russischen Duma mit großer Mehrheit der Erhöhung des Renteneintrittsalters zustimmten und damit eine ihrer unpopulärsten Entscheidungen trafen. Die totale Niederlage nach einer kurzen Protestwelle, die nie so richtig in Schwung kommen wollte, zeichnete sich schon vorher ab. Als sich Präsident Wladimir Putin Ende August zu Wort meldete mit dem Vorschlag, Frauen sollten in Zukunft nicht wie im Gesetzesprojekt festgeschrieben mit 63 Jahren, sondern mit 60 Jahren ihre Rentenansprüche geltend machen können, galt dies als Vorbote für ein Szenario, das sich nicht mehr korrigieren lässt. Für Männer gab es keine Zugeständnisse, obwohl ihre Lebenserwartung nur knapp über dem nun festgelegten Rentenalter von 65 Jahren liegt. In vielen Regionen fällt sie noch geringer aus.

In Artikel 7 der Verfassung steht, dass die Russische Föderation ein Sozialstaat ist. Danach basiert er auf den Prinzipien von sozialer Gerechtigkeit und sieht die Verteilung von ökonomischem Wohlstand vor, um jedem Menschen eine würdige Existenz zu gewährleisten. Tatsächlich zeichnet sich Russland durch eine extrem ungleiche Vermögensverteilung aus. Auch die Einkommen der reichsten zehn Prozent sind über 15 Mal so hoch wie die der ärmsten zehn Prozent. Über 20 Millionen Menschen leben nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat unter der Armutsgrenze. Bis Mai 2018 lag der gesetzlich festgeschriebene Mindestlohn unter den minimalen Lebenshaltungskosten. Staatliche Sozialhilfe für besonders Bedürftige trägt bestenfalls zur Linderung der Misere bei, zumal Sparmaßnahmen und die Kommerzialisierung im Bildungs- und Gesundheitsbereich auch Menschen mit mittlerem Einkommen treffen.

Das eigentliche Problem besteht im niedrigen Lohnniveau. Folglich fallen auch die Renten gering aus, wobei das vielschichtige Rentensystem wiederum selbst Ungleichheit reproduziert und Privilegien für staatstragende Personengruppen wie Militär- oder Polizeiangehörige bereithält, die durch die beschlossene Reform nicht angetastet werden. Hierbei geht es nicht allein um Rentensätze und Zuschläge, sondern um das Renteneintrittsalter. Wer beispielsweise mindestens zwölfeinhalb Jahre im Dienst des Innenministeriums stand, darf seine Rente bereits ab 45 Jahren beziehen. Dieser Umstand fand höchstens am Rande Eingang in kritische Debatten um die Rentenreform. Letztlich ging es bei den aus einer defensiven Haltung heraus geführten Protesten um die Beibehaltung des Status quo.

Zu einem der Hauptmerkmale der russischen Gesellschaft gehört eine schwach ausgeprägte Selbstorganisation. Als treibende Kräfte der Proteste im vergangenen Sommer agierten im Wesentlichen die systemische Opposition, allen voran die Kommunistische Partei KPRF, die Konföderation der Arbeit KTR als unabhängiger Gewerkschaftsverband und die lokalen Strukturen des Antikorruptionspolitikers Aleksej Nawalnyj. Während der drei Monate andauernden Kampagne fand keine einzige gemeinsam koordinierte landesweite Protestaktion statt. In Moskau, wo am 9. September Bürgermeisterwahlen stattfanden, arteten Kundgebungen gegen das neue Rentengesetz der KPRF und der Partei Gerechtes Russland in Konkurrenzveranstaltungen und regelrechten Wahlkampfmanövern für ihre jeweiligen Kandidaten aus. Nawalnyj, den die Behörden vorsorglich in Administrativhaft nehmen ließen, rief wiederum für den Wahltag zu landesweiten Protestaktion auf.

Definitiv verfügt Nawalnyj in der jüngeren Generation über das größte Mobilisierungspotenzial. In seinem Umfeld gibt es zudem mehr Bereitschaft, trotz üblicher Demonstrationsverbote auf die Straße zu gehen. In St. Petersburg zogen die Behörden kurzfristig ihre Genehmigung für den 9. September zurück und ließen über 600 Personen festnehmen. Die KPRF scheut einen möglichen Konflikt mit dem Kreml, deshalb setzt sie auf Mitgliederzuwachs und Wählerstimmen. Iwan Owsjannikow, Aktivist der Russischen Sozialistischen Bewegung und Vertreter des linken Sozialbündnisses »Petersburg ist dagegen«, sieht die Sache pragmatisch. »Es hätte noch schlimmer kommen können«, lautete sein Fazit gegenüber »nd«.

ute weinmann

nd

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