Der Angriff russischer Grenzschützer auf ukrainische Schiffe in der Straße von Kertsch ließ den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine erneut eskalieren.
»Drück ihn von rechts!« Der Blick richtet sich von der Brücke des Schiffs der russischen Küstenwache hinab auf einen Schlepper mit ukrainischem Hoheitszeichen. Aus dem Off ertönt ein emotional vorgetragener Kraftausdruck nach dem anderen, während auf dem Video zu sehen ist, wie sich das russische Schiff »Don« in schneller Fahrt dem wesentlich kleineren Schlepper nähert und ihn schließlich seitlich rammt. Schauplatz ist die Straße von Kertsch, die das Schwarze Meer mit dem Asowschen Meer verbindet; diese zu passieren versuchten zwei bewaffnete ukrainische Patrouillenboote sowie ein Schlepper der Marine erfolglos. An jenem 25. November kamen auch Schusswaffen zum Einsatz, wobei drei ukrainische Seeleute Verletzungen davontrugen.
24 Ukrainer, die gesamte Besatzung der Schiffe, wurden festgenommen und später nach Moskau überstellt.
Es ist nicht der erste Zwischenfall an der Meeresenge zwischen der Krim und dem russischen Festland, aber es ist der erste, der über eine reine Drohgebärde hinausreichte. Einem weiterhin gültigen Vertrag aus dem Jahr 2003 zufolge haben Russland und die Ukraine uneingeschränkten Zugang zu dem nördlich des Schwarzen Meers gelegenen Binnengewässer. Zugleich beruft sich Russland nun auf das Seerechtsabkommen der Vereinten Nationen von 1982, das bis 22 Kilometer vom Ufer entferntes Seegebiet unter nationale Souveränität stellt. Seit Mai 2018 verbindet zudem eine 19 Kilometer lange Brücke die Krim mit dem gegenüberliegenden Ufer, was auf der ukrainischen Seite zu Befürchtungen führte, dass es zu Beschränkungen für die Handelsschifffahrt und entsprechenden finanziellen Einbußen kommen könnte. Auch die ukrainische Marine stellte sich auf Schwierigkeiten ein. Als zwei Monate vor der jüngsten Eskalation zwei ukrainische Marineboote auf der gleichen Route Richtung Norden fahren wollten, beließ es die russische Seite allerdings bei einem friedlichen Begleitmanöver. Danach erklärte Kapitän Dmitrij Kowalenko, der die Operation auf ukrainischer Seite leitete, seine Mannschaft habe ihr an Bord befindliches Kriegsgerät geladen und hätte im Notfall zurückgeschossen.
Russlands Regierung interpretiert den jüngsten Vorfall als Provokation. Die drei ukrainischen Marineschiffe seien ohne Ankündigung in zeitweise gesperrte russische Hoheitsgewässer eingedrungen und hätten auf Verwarnungen nicht reagiert. Präsident Wladimir Putin sprach gar von einem »Schmierentheater« zur Verschärfung des russisch-ukrainischen Konflikts. Unter der ukrainischen Besatzung hätten sich zwei Angehörige des Geheimdienstes SBU befunden, die gestanden haben sollen, dass ein Vorwand für die Ausrufung des Kriegsrechts in der Ukraine geliefert werden sollte. Der russische Geheimdienste FSB veröffentlichte Videofragmente von Befragungen festgenommener ukrainischer Besatzungsmitglieder. Drei von ihnen bestätigen den vorsätzlichen Charakter des ihnen zur Last gelegten illegalen Grenzverstoßes. Einen Schießbefehl hatten sie offenbar nicht – oder sie haben sich über ihn hinweggesetzt.
Dmitrij Kisseljow, der Leiter der staatlichen Medienholding »Russland heute« und als Fernsehmoderator das wichtigste Sprachrohr der russischen Regierung, brachte noch eine weitere These ins Spiel. Die Provokation habe unter anderem das Ziel verfolgt, ein geplantes Treffen zwischen Putin und dem US-Präsidenten Donald Trump während des G20-Gipfels in Argentinien platzen zu lassen. Tatsächlich sagte Trump das Treffen ab, allerdings nicht ohne den Kreml-Propagandisten Anlass für einen kleinen Triumph am Rande zu bieten. Trump habe, so ein Mitglied des russischen Oberhauses, Konstantin Kosatschow, seine Absage damit begründet, dass die ukrainischen Schiffe und Seeleute nicht von Russland in die Ukraine zurückgekehrt seien. Da die Marineboote im Hafen von Kertsch, also auf der Krim, liegen, sei diese Formulierung die langersehnte Anerkennung der Krim als russisches Territorium. Weltweites Aufsehen erregte die Episode allerdings nur wegen des harten Eingreifens der russischen Grenzflotte.
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko nutzt die Gelegenheit und ließ in zehn Regionen vorerst für 30 Tage das Kriegsrecht ausrufen. Damit handelte er sich viel Kritik ein. Im Parlament erhielt seine Initiative indes die nötige Mehrheit. Poroschenkos Aussichten auf eine Wiederwahl bei den für Ende März 2019 geplanten Präsidentschaftswahlen sind bislang schlecht – selbst dass er es in die Stichwahl schafft, halten Beobachter für unwahrscheinlich. Dass ihm die wiederholte Selbstdarstellung als starker Mann genug Stimmen einbringt, ist keineswegs gewiss, doch es wäre ihm durchaus zuzutrauen, seine Amtszeit künstlich zu verlängern. Aber noch ist es nicht so weit.
Gesetzlich vorgesehene Einschränkungen sollen nur im Falle eines russischen Militärangriffs auf das Land greifen, auch am Wahltermin hält das Parlament fest. Eine Teilmobilisierung von Reservisten ist allerdings jetzt schon vorgesehen. Wie zu erwarten, schürten zudem ukrainische Nationalisten mit lautstarken Protesten antirussische Ressentiments. Konkrete Auswirkungen auf das angespannte ukrainisch-russische Verhältnis sind bereits absehbar. Zunächst gilt bis auf wenige Ausnahmen ein Einreiseverbot für männliche russische Staatsbürger zwischen 16 und 60 Jahren in die Ukraine. Auch Frauen werden an der Grenze abgewiesen und müssen sich auf verschärfte Kontrollen einstellen. Dabei bleibt Russland der wichtigste Handelspartner der Ukraine.
Die Europäische Union hofft auf Gespräche zur Deeskalation des Konflikts und denkt vorerst auch nicht über neue Sanktionen gegen Russland nach. Poroschenko erhielt mit seiner Bitte um militärische Unterstützung bei der Nato und in Deutschland eine klare Abfuhr. Die Nato unterstützt zwar die Ukraine, will aber keine Kriegsschiffe entsenden. Die jüngste Episode könnte im Übrigen auch als Warnsignal Russlands an die Ukraine verstanden werden, um den geplanten Ausbau des Handelshafens in Berdjansk zu einem Marinestützpunkt zu verhindern. Berdjansk liegt am ukrainischen Nordufer des Asowschen Meers. Es mag sein, dass Strategen im Kreml bereits Nato-Schiffe durch russische Binnengewässer fahren sehen.
ute weinmann