In der kleinen Gemeinde in der Stadt Šiauliai hat man mit Religion nicht viel am Hut.
»Sollen wir zuerst essen oder reden?« An einem langgezogenen Tisch im Keller eines alten Hauses in der nordlitauischen Stadt Šiauliai sitzen mehr als 20 Menschen. Die Frage des aus der Hauptstadt Vilnius angereisten Rabbiners ruft eine lebhafte Diskussion hervor, an der sich fast alle lautstark beteiligen. Der Jüngste unter ihnen ist Ende 30, der Älteste über 80 Jahre alt.
Ihnen allen machen zunehmende Differenzen innerhalb der litauischen jüdischen Gemeinde stark zu schaffen. Sie hoffen, in Rabbiner Sholom Ber Krynski einen starken Mittler und Fürsprecher in der Hauptstadt gefunden zu haben. Sie wollen Tacheles reden. Zunächst entscheiden sie sich aber fürs Essen.
Die Gemeinde in Šiauliai, der viertgrößten Stadt des Landes, hat in den vergangenen Jahren rege Tätigkeiten entwickelt. »Die meisten von uns sind nicht religiös, sondern säkular«, sagt Sania Kerbelis, der Vorsitzende. »Zu uns kommen Rabbiner unterschiedlicher Ausrichtungen, Chassiden, Litwaki.«
Anders als in Vilnius, wo einmal die eine, einmal die andere Richtung die Oberhand gewinne, spiele das hier keine Rolle. »In Šiauliai sprechen wir mit allen, wir sind einfach Juden.« Der Unterhalt eines eigenen Rabbiners würde die bescheidenen Ressourcen sprengen. Aber dafür gebe es ohnehin keine Notwendigkeit, da hier niemand konsequent religiös sei.
Wie Kerbelis stammen die heute in Šiauliai lebenden Juden überwiegend aus der Stadt selbst oder aus der Umgebung. 70 bis 80 Prozent von ihnen sprechen Jiddisch miteinander – sie können es aber weder lesen noch schreiben. Um dieses Defizit zu beheben, gibt es seit einigen Monaten einen Jiddischkurs. Er ist für alle Interessierten offen, nicht nur für Gemeindemitglieder.
»Die jüdische Kultur Litauens lässt sich ohne Kenntnisse des Jiddischen nicht verstehen«, erklärt Kerbelis. Auf eine Anzeige auf der Facebook‐Seite der Gemeinde meldeten sich prompt zwei junge Litauerinnen für den Sprachkurs an.
Eine jüdische Schule oder einen Kindergarten gibt es in Šiauliai nicht. Neben kulturellen und sozialen Angeboten für die Mitglieder hat sich die Gemeinde zum Ziel gesetzt, mehr Präsenz in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Eine Option sind eigene Sportveranstaltungen. Für ein Turnier konnten sie eine Gruppe Sportler aus der Stadtverwaltung und der Feuerwehr gewinnen. »Damit sich die Meinung über uns ändert, müssen wir uns selbst ändern«, ist Kerbelis überzeugt. Früher hätten ihnen Ängste und Komplexe, die die Sowjetzeit ausgelöst hatte, zu schaffen gemacht. Jetzt laden sie aktiv zu sich ein. Im vergangenen Jahr haben sie dem 1943 in Kaunas von den Nazis ermordeten zweimaligen Olympiateilnehmer Isakas Anolikas ein Denkmal gesetzt und ihm zu Ehren ein Radrennen veranstaltet. Die Stadt übernahm die Schirmherrschaft.
gedenktafeln Die Gemeinde in Šiauliai ist auch für einige kleinere Orte in der Umgebung zuständig, wie das Städtchen Zagare, jiddisch Zhagar, an der Grenze zu Lettland. Dort finden regelmäßig Gedenkveranstaltungen statt, denn viele Vorfahren der Gemeindemitglieder haben dort ihre Wurzeln.
In diesem Haus in Zagare am Marktplatz befand sich einst ein jüdischer Laden, ein Hotel und ein Restaurant. Foto uw
Juden leben heute keine mehr in Zagare. Aber etliche litauische Einwohner setzen sich in Eigeninitiative für den Erhalt des jüdischen Erbes der Stadt ein. Auf ihre Anregung hin erinnern Gedenktafeln an Juden, die früher in diesen Häusern lebten. Es gibt sogar eine Vereinbarung, dass Juden, die an den Gedenktagen für die Opfer der Schoa die Stadt besuchen, diese Häuser von innen besichtigen dürfen. Und jedes Jahr im Sommer finden jüdische Kulturtage statt. Das Interesse an allem Jüdischen wachse, sagt Sania Kerbelis. Es scheine sich so manches zum Positiven zu wenden. Inzwischen sei es zeitgemäß, sich als Jude zu outen. Es gäbe sogar Litauer, die behaupteten, jüdisch zu sein, obwohl sie es nicht sind. Der Gemeindevorsitzende wertet das als gutes Zeichen: Die Menschen verweigerten sich dem Jüdischsein nicht mehr.
Zudem, hebt Kerbelis hervor, bedauerten viele Litauer die Gräueltaten an den Juden. Gleichzeitig sei aber immer noch zu hören, Litauer hätten mit der Ermordung der Juden nichts zu tun, oder sie seien von den Deutschen dazu gezwungen worden. Gedenkfeierlichkeiten finden unter Beteiligung offizieller Amtspersonen statt, aber wenn in den Zeitungen Artikel über litauische Volkshelden erscheinen, in denen ihre aktive Beteiligung an den Judenmorden nicht erwähnt wird, bleiben Stellungnahmen aus. »Wie 1941.«
Kerbelis sagt dies ganz nüchtern. Auch damals hätten nicht alle die Waffen gegen die Juden erhoben, aber sie hätten geschwiegen und sich an jüdischem Eigentum bereichert. Auf Anfragen für die Aufstellung von Gedenksteinen, heißt es bei den Behörden immer, es gebe kein Geld. Oder sogar, dies sei doch Sache »der Juden«.
Konflikt Am meisten beschäftigt die Gemeinde in Šiauliai derzeit aber ein heftiger Konflikt im litauischen Gemeindeverband in Vilnius. Auch in anderen Gemeinden regt sich Unmut gegen dessen Vorsitzende Faina Kukliansky, der die Verhinderung demokratischer Wahlen im Verband sowie Machtmanipulationen vorgeworfen werden.
Vor einem Jahr gab es sogar einen öffentlichen Aufruf, sich an einer Kundgebung gegen sie zu beteiligen. Kukliansky habe dafür gesorgt, dass neben den existierenden lebendigen Gemeinden kleine handzahme Organisationen gegründet und mit eigenem Stimmrecht ausgestattet wurden, so der Vorwurf.
Infolge dieser Entwicklung schrumpfte die Gemeinde in Šiauliai von 162 auf knapp über 100 Mitglieder. Früher war deren Anzahl ausschlaggebend, nach Kuklianskys neuem Modell verfügt jede einzelne Organisation über eine Stimme, womit sich die Vorsitzende im vergangenen Jahr ihre Wiederwahl sicherte.
Letztlich geht es um die Frage, wer die Kontrolle über die »Stiftung des guten Willens« ausübt. Der Fonds enthält Geld, das der litauische Staat als Entschädigung für jüdisches Eigentum gezahlt hat und mit dem auch die Gemeinde in Šiauliai zu einem großen Teil finanziert wird.
Der Konflikt bindet Kräfte – doch hält er die Gemeinde nicht von ihren vielfältigen Aktivitäten ab. »Wir wurden immer am Weiterkommen gehindert«, sagt Sania Kerbelis. »Aber jetzt, wo man uns weiterkommen lässt, treten wir die Flucht nach vorn an.«
ute weinmann