In St. Petersburg stehen Anarchisten und Antifaschisten vor Gericht. Die Anklage beruht auf Aussagen, die unter Folter erpresst wurden.
Am 8. April startete in St. Petersburg der Prozess gegen Mitglieder einer vermeintlichen Terrorgruppe, die in den Ermittlungsakten unter dem Namen «Netzwerk» figuriert. Zwei dem anarchistischen und antifaschistischen Spektrum zugehörige Angeklagte, Wiktor Filinkow und Julij Bojarschinow, müssen sich vor einem eigens angereisten Moskauer Militärtribunal verantworten. Einen dynamischen Ablauf hatte der Vorsitzende Richter angekündigt. Selbst Videoaufnahmen wurden gestattet. Allerdings fanden längst nicht alle der zur Prozessbeobachtung eingetroffenen Angehörigen, Journalisten, Freunde und Bekannte in dem kleinen Raum Platz. Allzu viel öffentliche Aufmerksamkeit schien dem Gericht offenbar nicht angebracht. So waren am dritten Tag bereits am frühen Morgen fast alle Plätze von unbeteiligten Jurastudenten besetzt.
Angesichts der zu Last gelegten schweren Vergehen – immerhin sollen vier in Pensa und St. Petersburg aufgedeckte Zellen des «Netzwerks» Anschläge unter anderem gegen hochrangige Politiker geplant haben mit dem Ziel, einen Umsturz zu provozieren – sollte eine seriöse Beweisführung vorausgesetzt werden. Dabei setzt sich die verlesene Anklageschrift aus einer Kette reiner Vermutungen zusammen. Unbekannte Personen hätten zu einem unbekannten Zeitpunkt an unbekanntem Ort zukünftige Straftaten geplant. Die Gruppenmitglieder hätten für Kampfhandlungen trainiert, allerdings, wie der bislang offengelegten Aktenlage zu entnehmen ist, auf völlig legale Weise in einem der zahlreichen Clubs, die in weiten Kreisen beliebte Kommando- und Militärspiele wie Airsoft anbieten. Pikanterweise wurden zuvor dort völlig unbehelligt freiwillige Kämpfer im Umgang mit der Waffe für einen Einsatz im Donbass und sogar schwedische Neonazis geschult, die später Anschläge in Göteborg verübten.
Auf die Frage, ob er die Anklagepunkte nachvollziehen könne, antwortete Filinkow mit einem klaren Nein. Er verstehe nicht, auf welcher Grundlage dieser Text verfasst worden sei. Sein Nachbar auf der Anklagebank, Bojarschinow, hatte hingegen seine Schuld gestanden und beantragt, auf dieser Grundlage in einem gesonderten Schnellverfahren abgeurteilt zu werden. Doch das Gericht lehnte ab. Igor Schischkin, der im Januar als erster von drei in St. Petersburg ermittelten «Netzwerk-Angehörigen» eine Haftstrafe von dreieinhalb Jahren erhielt, durfte von dieser Option Gebrauch machen, weil er sich von Beginn an auf einen Deal mit den Ermittlern des Inlandsgeheimdienstes FSB einließ und umfangreiche belastende Aussagen getätigt hatte.
Soweit wollte Bojarschinow nicht gehen. Vor Gericht lieferte er recht hölzern klingende Erklärungen über Treffen mit Freunden, bei denen über mögliche politische Negativszenarien, einem Anwachsen nationalistischer Tendenzen ähnlich denen in der Ukraine nach den Ereignissen auf dem Maidan 2014 und der Notwendigkeit zur Selbstverteidigung diskutiert worden sei. Einmal hätten auch einige Gleichgesinnte aus Pensa an solch einer Diskussion teilgenommen. Da sie sich nur oberflächlich kannten, wählten alle Beteiligten dafür ein Pseudonym. Während des Airsoft-Trainings mussten sie sich zudem entsprechend der Spielregeln auf eine Rolle festlegen, wie Melder oder Mineur. Aus Perspektive der Ermittler ein klassisches Merkmal einer Terrororganisation.
Als weiteres Beweismittel der Anklage dient eine Art Protokoll, dessen Echtheit allerdings Zweifel aufwirft. Es bleibt abzuwarten, ob der für den 25. April in Pensa angesetzte Prozessbeginn gegen Mitglieder zweier Zellen, darunter auch zwei wegen Organisation einer terroristischen Vereinigung angeklagte Antifaschisten, überzeugende Nachweise liefert, ob das «Netzwerk» je existiert hat. Die Hauptangeklagten weisen jegliche Schuld von sich. Klar ist nur, dass sich die meisten von ihnen kannten. Und, dass die Sache durch Jegor Sorin, der nicht auf der Anklagebank sitzen wird, erst ins Rollen kam. Sorin wurde mit Drogen erwischt und dann vom Inlandsgeheimdienst FSB unter Druck gesetzt. Anfangs sollte er Informationen über islamistische Anwerber an der Universität liefern, später auch über Antifaschisten aus seinem Umkreis.
Nicht zur Debatte steht die Frage, wie die ersten Aussagen der meisten der vermeintlichen «Netzwerk-Mitglieder» zustande kamen. Dabei müsste dieser Aspekt im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Schischkin wies nach seiner Festnahme Spuren von Misshandlungen im Gesicht auf und Filinkows Körper war nach unabhängigen Aussagen mit zahlreichen kleine Brandwunden übersät, wie sie Elektroschocker hinterlassen. Dmitrij Ptschelinzew in Pensa berichtete sogar von mehrmaliger Folter durch Stromschläge in einer Zelle des Untersuchungsgefängnis, die der leitende FSB-Ermittler Walerij Tokarew zu verantworten habe. Gegen ihn strebt derweil auch ein Geschäftsmann aus Pensa ein Strafverfahren an. Aleksej Schmatko wirft dem FSB-Offizier vor, ihn gefoltert und erpresst zu haben. Anfang April erhielt Schmatko Asyl in Großbritannien. Aus diesem Anlass bot ihm der Fernsehsender Rossija 24 überraschenderweise die Gelegenheit, in einem Interview von der Folter zu berichten und Tokarew namentlich an den Pranger zu stellen.
Dass der FSB Foltermethoden anwendet, ist an sich nichts neues, strafrechtliche Konsequenzen blieben indes aus – anders bei Angehörigen des Justizwesens. Denn seit der Aufdeckung gut dokumentierter Misshandlungen an Häftlingen in einer Strafkolonie bei Jaroslawl im vergangen Jahr scheint deren Folter-Freibrief nicht mehr uneingeschränkt zu gelten. Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka berichtete unlängst vor dem russischen Oberhaus von zahlreichen Straftaten durch Justizangestellte, darunter auch Folter. Senatorin Ljudmila Narusowa, die Mutter der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Ksenija Sobtschak, arbeitet an einem Gesetzesentwurf, der Folter als eigenständigen Straftatbestand festlegen soll. Am ersten Prozesstag in St. Petersburg glänzte sie mit ihrer Anwesenheit im Gerichtssaal. Ein paar Tage darauf wurden die Verhandlungen bis zum 14. Mai ausgesetzt.
ute weinmann