Am vergangenen Sonntag fand in der nordlitauischen Stadt Šiauliai eine Veranstaltung statt, wie sie vor zehn Jahren in dieser Form wohl undenkbar gewesen wäre. Mit einem Marsch des Lebens, einer Gedenkkundgebung und weiteren Programmpunkten soll an die Liquidierung des jüdischen Ghettos vor 75 Jahren erinnert werden. Die Idee dazu stammt von der lokalen jüdischen Gemeinde und ihrem Vorsitzenden, Sania Kerbelis. Bemerkenswert ist, dass der lokale Verwaltungsapparat das Gedenken unterstützt. »Seltsamerweise ruft die Verwaltung von Šiauliai sogar zur aktiven Teilnahme an der Veranstaltung auf«, freut sich Kerbelis. Er erinnert sich gut an die Zeit, als offizielle Stellen versuchten, das Thema Holocaust so weit als möglich zu ignorieren.
Šiauliai war einst ein Zentrum der Lederindustrie und eine jüdische Stadt. Anfang des 20. Jahrhunderts stellten Jüdinnen und Juden dort weit mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, durch die Emigrationswelle nach der Unabhängigkeit Litauens ging ihr Anteil zurück. Der erstarkende Antisemitismus brachte auch den größten Fabrikanten am Ort, Chaim Frenkel, dazu, sein gesamtes Anwesen kurz vor dem Krieg zu veräußern. Heute befinden sich die ehemaligen Produktionsstätten und seine eindrucksvolle Villa in staatlichem Besitz und beherbergen ein Museum, wo zukünftig Menschen gedacht werden soll, die Juden gerettet haben.
Ende Juli 1941 errichteten die deutschen Besatzer ein Ghetto. Es teilte sich in zwei nah beieinanderliegende Flächen mit getrennten Zugängen, wo zunächst jeweils etwa 3000 Menschen unterkamen, darunter auch aus den umliegenden Dörfern und aus Polen. Im Frühherbst erfolgte die Ermordung vieler Juden im Umland, auch jener aus Šiauliai, die zuvor in das Ghetto von Žagarė an der Grenze zu Lettland deportiert worden waren. Doch nicht alle wurden sofort in den Tod geschickt. «Es wurden jüdische Spezialisten benötigt, um die Produktion in der lokalen Lederindustrie aufrecht erhalten zu können», sagt der Publizist Evaldas Balčiūnas aus Šiauliai, der sich seit Jahren intensiv mit dem Thema auseinandersetzt. Gebietskommissar von Šiauliai, Hans Gewecke, sorgte allein aus diesem Grund dafür, dass jüdische Arbeitskräfte in entsprechendem Umfang zur Verfügung standen. Zwei Jahre lang gab es in Šiauliai keine Massenerschießungen.
Viele Menschen messen dem Andenken an das Ghetto in der Stadt eine wichtige Bedeutung zu, ist sich Balčiūnas sicher. «Andere würden am liebsten vergessen, dass es hier ein Ghetto gegeben hat.» Denn das passt nicht in das Bild, das viele — auch das staatliche Zentrum zur Erforschung von Genozid und Widerstand der litauischen Bevölkerung — von litauischen Nationalhelden wie Jonas Noreika pflegen. Weil er gegen die Sowjetmacht Widerstand geleistet hat und dafür hingerichtet wurde, tritt Noreikas massgeblicher Anteil am Aufbau des Ghettos in Žagarė und der Vorbereitung von Erschießungen im Umland in seiner Eigenschaft als Leiter der Bezirksverwaltung in Šiauliai in den Hintergrund. Schließlich habe er persönlich keine Juden getötet, so die Argumentation des Zentrums.
Wenige Juden haben das Ghetto überlebt, andere konnten sich in der Emigration auf sowjetischem Gebiet retten. Die lokale jüdische Gemeinde verzeichnet heute über hundert Mitglieder, die größtenteils aus der Gegend stammen und als echte Shavler — jüdische Einwohner von Šiauliai — auch das Jiddische als Umgangssprache pflegen. Aber nach wie vor gibt es Gedenktafeln für jene, die am Judenmord beteiligt waren. «Das beunruhigt uns», sagt Kerbelis. «Wir unternehmen alles, was in unserer Macht steht, um dagegen vorzugehen.» Bislang sieht er nicht, dass auf staatlicher Ebene der politische Wille ausreiche für eine konsequente und wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung. Dennoch ist er erfreut über sichtbare Fortschritte im Umgang mit der Vergangenheit und darüber, dass seine Initiativen, wie beispielsweise die Umbenennung einer Straße zu Ehren von Chaim Frenkel, Gehör finden. «Ich denke, einer der Gründe für diese Veränderungen liegt darin, dass sich die Juden selber aktiver darum bemühen, das Andenken an die Geschichte zu bewahren.»
ute weinmann