Vom Bruder zum Partner

Die russisch-belarussichen Beziehungen sind traditionell sehr eng, wirtschaftlich ist Belarus von seinem großen Nachbarn abhängig. An Konfliktpotential mangelt es jedoch nicht.

Sie stehen einander so nah wie keine zwei anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Russland dominiert kraft seiner immensen Ressourcen, Belarus gibt den gewitzten Juniorpartner, der seine Eigenständigkeit betont und doch existentiell auf den mächtigen Nachbarn angewiesen ist. Innige Nähe in Kombination mit einer demonstra­tiv gewahrten Distanz bestimmen das komplizierte Verhältnis, das im offiziellen Jargon beschönigend als Inte­grationsprozess bezeichnet wird. Aber während zu Beginn der Beziehungen zweier souveräner Staaten noch vieles auf eine dynamische Wiederannäherung unter nichtsozialistischen Vorzeichen hindeutete, geriet der Prozess Ende der neunziger Jahre mit dem Amts­antritt Wladimir Putins als russischer Präsident ins Stocken.

Sein Amtskollege Alexander Lukaschenko hatte da bereits durch einen harten innenpolitischen Konfrontationskurs die Grundlage gelegt für seine Alleinherrschaft in der kaum zehn Millionen Einwohner zählenden Republik Belarus. Außenpolitisch hielt er auf eine enge Kooperation mit Russland, zu Beginn seiner Amtszeit sprach er sich sogar für eine Vereinigung beider Staaten aus. Seit 1992 unterhalten Belarus und Russland diplomatische Beziehungen. Auf Betreiben Lukaschenkos folgten später mehrere Abkommen, die die Annäherung an Russland vorantreiben sollten. Im Dezember 1999 wurde der Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats unterzeichnet und trat im Januar darauf in Kraft. Der Vertrag sieht unter anderem eine Union von Verfassung, Währung, Zollbehörde, Justiz und Rechnungshof vor.

Ökonomisch betrachtet, folgte diese Entwicklung einer gewissen Notwendigkeit. Die deutsche Wehrmacht hatte dafür gesorgt, dass von allen ehemaligen Sowjetregionen Belarus die größten Schäden davontrug. Genau deshalb setzte die Sowjetunion alles daran, den Wie­deraufbau voranzutreiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es jedoch Jahrzehnte, bis Industrie und Landwirtschaft den Lebensstandard in der Region auf ein Niveau anhoben, das weit über dem sowjetischen Durchschnitt lag. Für die Produktion in der Schwerindustrie und im Maschinenbau fehlten allerdings die nötigen Rohstoffe und Energieträger, was nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit eine strategische Partnerschaft mit dem großen Nachbarn im Osten geradezu überlebensnotwendig machte. Politisch stand man einander ohnehin viel näher als beide Länder dem Westen. Denn Lukaschenko war weder gewillt, Belarus einer radikalen Marktwirtschaftskur zu unterziehen noch minimale demokratische Standards einzuhalten.

Zur Verwirklichung des Unionsstaatsvertrags entstand eine ganze Reihe von Ausschüssen. Viel geschehen ist seither allerdings nicht. Weder wurde die Gesetzgebung vereinheitlicht noch ein gemeinsames Parlament geschaffen. Außerdem halten Russland und Belarus trotz vertraglicher Vorgaben bis heute an der jeweils eigenen Ver­sion des Rubels fest, auch wenn die Zentralbanken und Wirtschaftsministerien beider Länder eifrig über denkbare Szenarien der Vereinheitlichung diskutieren. Lukaschenko lehnt zwar nicht grundsätzlich die Einführung einer einheitlichen Währung ab, befürchtet jedoch, vom russischen Rubel einfach überrollt zu werden. Ein neuer, gemeinsamer Rubel müsse her, findet der belarussische Präsident, trifft auf der russischen Seite indes auf verhaltene Reaktionen. Einig sind sich alle höchstens in der Frage, dass zuallererst ein gemeinsamer Wirtschaftsraum entstehen müsse – doch selbst bis dahin ist es noch ein langer Weg.

De facto subventioniert Russland Belarus seit über zwei Jahrzehnten und erhielt im Gegenzug einen loyalen Bündnispartner, der in wichtigen strategischen Fragen mit Russland übereinstimmt und für einen reibungslosen Transit russischer Energieexporte gen Westen sorgt. Zumindest gelingt es Lukaschenko, sich als einzigen Garant für politische Stabilität in Szene zu setzen. Seine Regierung sitzt zwar am deutlich kür­zeren Hebel, erreichte bei der Aushandlung von exklusiven Freundschaftspreisen für rus­sisches Gas und Öl aber enorme Zugeständnisse. Nach Schätzungen des Moskauer Instituts für Energetik und Finanzen beläuft sich der Gesamtumfang russischer Subventionen durch extrem niedrige Exportpreise für den kleinen Nachbarn seit der Jahrhundertwende auf annähernd 100 Milliarden US-Dollar.

Lukaschenkos Loyalität kennt jedoch Grenzen – ebenso wie die Zahlungsbereitschaft der russischen Regierung. Die große wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland – auch als wichtigster Handelspartner und Quelle von Direkt­investitionen – birgt für Belarus hohe Risiken. Zudem übte sich der belarussische Präsident Lukaschenko immer häufiger in außenpolitischen Alleingängen, was die russische Führung mit schwindender Kulanz quittierte. 2008 änderten sich die Beziehungen deutlich. Durch das Kriegsintermezzo in Georgien führte Russland seinen Nachbarn deutlich vor Augen, dass Panzer als schwerwiegendes Verhandlungsargument ins Spiel kommen könnten, sollten andere Methoden nicht den gewünsch­ten Effekt haben. Belarus suchte den Kontakt zur Europäischen Union und fand Aufnahme in deren Programm »Östliche Partnerschaft«.

Russlands Annexion der Krim und die Eskalation im Donbass sind für Belarus Bedrohung und Chance zugleich. Lukaschenko sicherte Russland seine Unterstützung zu, indem er die Krim zwar de facto als russisches Territorium anerkennt, nicht aber de jure. Das nachbarschaftliche Verhältnis zur Ukraine will er nicht gefährden, er bot sich stattdessen als Vermittler in dem Konflikt an. Davon zeugt das Minsker Abkommen vom Februar 2015, das allerdings wie der Unionsvertrag mit Russland nicht umgesetzt wird.

Immerhin kann Lukaschenko durch diese Rolle sicherstellen, dass Belarus nicht als Hinterland für russische Militäreinsätze in der Ukraine missbraucht wird. Allerdings hat das Folgen: rückläufige russische Investitionen und Subventionen. Das setzt Belarus unter Druck, ­finanzielle Unterstützung und Kredite aus anderen Quellen zu akquirieren.

Im Übrigen haben nicht nur der Präsident, sondern auch die belarussische Bevölkerung längst Gefallen an ihrer Unabhängigkeit gefunden. Inzwischen wich Lukaschenko sogar von seiner bisherigen Regel ab, die belarussische Sprache bei öffentlichen Auftritten prinzipiell zu vermeiden. Er präferiert an sich das Russische, die andere offi­zielle Staatssprache von Belarus. Kulturell stehen sich die beiden Länder sehr nahe und das russische Staats­fernsehen erreicht mit seinen Botschaften mehr Menschen, als dies in anderen Staaten mit einer russischen Minderheit der Fall ist. Die Meinungsbildung wird somit stark beeinflusst, aber die lange Zeit, die seit dem Zerfall der Sowjetunion vergangen ist, hat deutlich gezeigt, dass man auch ohne eine Union mit Russland auskommen und von freundschaftlichen Verhältnissen profitieren kann.

Ob dies so bleiben wird, ist eine offene Frage. Konfliktpotential gibt es zuhauf, beispielsweise wegen des Erlasses Lukaschenkos, der EU-Bürgerinnen und Bürgern seit 2017 unter bestimmten Bedingungen einen visumfreien Kurzaufenthalt in Belarus ermöglicht. Die Krux an der Sache ist, dass nach wie vor keine klaren Grenzregelungen existieren. Menschen mit russischem oder belarussischem Pass haben dem Unionsvertrag zufolge freie Wohnortwahl. Die belarussische Regierung kümmert es wenig, ob auch weiter gen ­Osten reist, wer keinen belarussischen oder russischen Pass hat. Die russische Regierung ­hingegen ist darüber erbost und verhindert vermehrt Einreisen von Ausländern auf dem Landweg über Belarus. Ein Eklat nach dem anderen folgte. Im Frühjahr zog Russland seinen Botschafter Michail Babitsch aus Minsk zurück, nachdem sich das belarussische Außenministerium darüber beschwert hatte, dass Babitsch in Hinblick auf Belarus keinen Unterschied sehe zwischen einer russischen Region und einem unabhängigen Staat. Noch vor zwei Jahren bezeichnete Lukaschenko seinen Amtskollegen Putin als Bruder, mittlerweile sind die beiden nur noch »Partner«.

ute weinmann

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