Vadim Damier ist promovierter Historiker und Autor zahlreicher Bücher über die Geschichte sozialer Bewegungen sowie den Anarchismus in Russland und weltweit. Mit der »Jungle World« sprach er über die Bedeutung des 9. Mai im heutigen Russland und das dortige Verständnis von Antifaschismus.
Die Parade in Moskau zum 75. Jahrestag des Sieges über den Faschismus wurde wegen der Covid-19-Pandemie verschoben. Andere Veranstaltungen wurden in letzter Minute abgesagt, wie die Einweihung der »Kirche des Sieges« im militärisch ausgerichteten Freizeitpark »Patriot« bei Moskau. Bei dieser handelt es sich um einen Nachbau der Kirche der Auferstehung Christi in Sankt Petersburg, die anlässlich des Siegs über Napoleon errichtet worden war und symbolische Bedeutung für die russischen Streitkräfte hat. Ist der 9. Mai in Russland überhaupt noch ein antifaschistischer Feiertag?
Dem offiziellen Antifaschismus im heutigen Russland lag von Anfang an eine überaus spezifische Auffassung zugrunde. Auch wenn der Sieg über den Faschismus auch als Sieg über ein menschenfeindliches Regime gedeutet wurde und nach wie vor wird, ging es im Wesentlichen immer um die Legitimierung des russischen Staats. Antifaschismus dient in Russland vorrangig als Mittel zur Staatslegitimierung, und zwar in Kombination mit dem Verweis auf russische wie auch sowjetische militaristische Großmachttraditionen. Darauf geht auch die in patriotischen Kreisen weitverbreitete Leugnung der Existenz und sogar der theoretischen Möglichkeit eines russischen Faschismus zurück. Faschismus wird weniger mit seinen realen ideologischen und politischen Prinzipien identifiziert, also beispielsweise mit ultranationalistischen oder extrem sozialdarwinistischen Auswüchsen, sondern explizit allein mit Hitler-Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg. Insofern steht der 9. Mai in der allgemeinen Wahrnehmung nicht für den Sieg über den Faschismus als solchen, sondern für den Sieg des russischen Staats über Deutschland. Und dieser reiht sich in eine Kette weiterer Siege der russischen Militärmacht im Verlauf der Geschichte ein. Diese Kontinuität zeigt sich auch in der Symbolkraft der erwähnten Kirche.
Wird das auch anderweitig deutlich?
Als ein weiteres Symbol dienen auch die dubiosen Georgsbändchen (die schwarz-gelben Bändchen tragen viele um den 9. Mai herum an Taschen oder befestigen sie an ihren Autos, Anm. d. Ü.), die auf die zaristische Armee und ihre Traditionen zurückgehen. Und selbstverständlich gehören in diesen Zusammenhang auch die vom Staat unternommenen Anstrengungen, die Verfassung zum »Schutz der historischen Wahrheit« zu ändern. Hier wird die staatslegitimierende Rolle des Siegs im Zweiten Weltkrieg besonders deutlich. Der 9. Mai bleibt also erhalten, aber je größer die zeitliche Distanz, desto mehr gerät er zum Feiertag für staatliche, militärische Triumphe.
In den nuller Jahren und nach dem Machtwechsel in der Ukraine griffen russische Staatsvertreter gern auf antifaschistische Rhetorik zurück. Derzeit ist das anders. Mitte Februar fand zwar in der Luhansker »Volksrepublik« ein großangelegtes »antifaschistisches Forum« unter dem Motto »Wir glauben an den Donbass« mit Gästen von der Krim statt, in Russland aber ist es um derlei Veranstaltungen still geworden. Hat der Antifaschismusbegriff in Russland ausgedient?
Tatsächlich entsteht der Eindruck, dass antifaschistische Rhetorik nur noch als Randphänomen vorkommt. Zumindest bei offiziellen Anlässen ist das so. Mehr noch, aus staatlicher Perspektive ist der Antifaschismus schon seit längerem verdächtig, mindestens seit der Zeit, als in Russland eine aktive Antifa entstand. Häufig setzen Staatsvertreter und dem Staat nahestehende Personen und Medien die Antifa, also Antifaschisten, mit »Extremismus« gleich. Ihrer Ansicht nach steht dieser fast auf einer Ebene mit dem Faschismus.
Warum gab es dann in Russland keine stärkere Kritik an den engen Kontakten regierungsnaher Organisationen und Institutionen zu rechten europäischen Parteien?
Im Hinblick auf das Wertesystem und die ideologische Ausrichtung gibt es große Ähnlichkeiten zwischen dem russischen Machtapparat und europäischen rechten Parteien. Dabei lohnt sich ein Blick darauf, wie diese Parteien in der Öffentlichkeit dargestellt werden und wie das russische Establishment und seine Medien sie ansehen. Diese Parteien tauchen dort nicht als Träger bestimmter faschistoider Tendenzen auf, sondern als konservative Kräfte, die sich auf traditionelle Werte stützen und einen eigenständigen Weg der nationalen Entwicklung suchen, in Abkehr von der Globalisierung, dem Liberalismus und der »amerikanischen Hegemonie«. Es gibt also sowohl ideologische Nähe als auch gemeinsame geopolitische Präferenzen.
Unlängst verschob die Staatsduma das Datum, an dem der Zweite Weltkrieg endete, vom 2. auf den 3. September. Als Begründung musste unter anderem herhalten, dass China an diesem Tag den Sieg über Japan feiert. In Russland steht der 3. September auch für die Erstürmung einer von Terroristen besetzten Schule in Beslan, Nordossetien, im Jahr 2004. Dabei starben 331 Menschen, hauptsächlich Kinder. Die russische Regierung verweigert nach wie vor Antworten auf viele Fragen zu diesem Vorfall. Welche Absicht steht hinter dieser Verschiebung?
Die Übereinstimmung der Daten ruft zweifellos negative Assoziationen hervor. Aber ich denke nicht, dass wir es hier mit vorsätzlichen Bemühungen zu tun haben, diese Tragödie aus dem Bewusstsein zu tilgen. Eher dominiert hier das Streben, sich von im Westen gebräuchlichen Normen zu distanzieren. »Wir« wissen besser, was wann und wie passiert ist. »Wir« stellen uns gegen die Versuche von »Russlands Feinden«, die »Geschichte zu verfälschen« … In der Datumsverschiebung manifestiert sich zum wiederholten Mal ein eigenartiger russischer Sonderweg. Im Übrigen betrifft das auch das Kriegsende in Europa, an das in Russland, wie bereits in der UdSSR, traditionellerweise nicht am 8. Mai gedacht wird wie andernorts in Europa, sondern am 9. Mai, nur weil in Moskau zum Zeitpunkt der Kapitulation bereits der Folgetag angebrochen war.
Seit 2012 geht in Russland ein regelrechter konservativer Umbruch vonstatten. Innere politische Widersprüche versucht die Staatsführung zu entschärfen, indem sie der Bevölkerung ein konservatives Wertesystem aufzwingt – genauer gesagt, die orthodoxe Religion und den Glauben, dass ein starker Staat einziger Garant für Stabilität sei. Welche Rolle kommt dennoch den nach wie vor für viele prägenden Erfahrungen zu, die sich aus der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit ergeben?
Bereits zu Stalins Zeiten galt die Sowjetunion in der offiziellen Auffassung weitgehend als Nachfolgerin des russischen Imperiums. In der stalinistischen Staatshymne hieß es, dass das »Große Russland« alle Völker »für immer vereint« habe. In den Augen russischer Patrioten, auch jenen in Machtpositionen, ist Stalin in erster Linie der Erbauer eines bedeutsamen russischen Imperiums, das unter ihm den Höhepunkt seiner historischen Größe erreicht hat. Eben dieses nationalistische Motiv, das sich im Einklang mit konservativen und klerikalen ideologischen Postulaten des zaristischen Russlands befindet, ist für sie zentral. Umgekehrt bemüht sich der Staat darum, das »kommunistische«, tatsächlich staatskapitalistische Fundament des stalinistischen Regimes in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Staatsmacht stellt zudem die Gründer der Sowjetunion, allen voran Lenin oder Trotzki, als Dämonen und Feinde Russlands dar. Mit anderen Worten, aus der sowjetischen Vergangenheit wird nur übernommen, was sich dazu eignet, die Kontinuität despotischer, imperialer, konservativer und militaristischer Traditionen unter Beweis zu stellen. Die Revolution von 1917 passt nicht in dieses Schema von Kontinuität, während die Stalin-Ära in dieser Sicht an vorrevolutionäre Traditionen anknüpft.
Interview von
ute weinmann