Offiziellen Angaben zufolge stimmten knapp 78 Prozent der Wählerinnen und Wählern den vom russischen Präsidenten Wladimir Putin bereits besiegelten Verfassungsänderungen zu. Diese sichern Putin die Möglichkeit, bis 2036 im Amt zu bleiben, könnten aber auch einen Machttransfer vorbereiten.
Eine Woche lang hatte die russische Bevölkerung die Gelegenheit, ihre Zustimmung zu den Änderungen der russischen Verfassung zu bekunden. So unverhohlen formulierte es die offizielle Website der Stadt Moskau, auf der sich die Wahlberechtigten in der Hauptstadt für die elektronische Stimmabgabe anmelden konnten. Auch in der Region Nischnij Nowgorod war dies erstmals möglich, ansonsten wurde per Stimmzettel gewählt. In den Wahllokalen wurden Teilnehmende vielerorts mit kostenlosen warmen Mahlzeiten und Lotteriepreisen für die Ausübung ihrer Bürgerpflicht belohnt. Trotz dieser fast schon traditionellen Begleiterscheinungen verlief bei dieser Volksabstimmung vieles anders als gewohnt.
Nicht »unsere«, sondern »seine«, also Putins Verfassung: Werbung für das Verfassungsreferendum in Sankt Petersburg. Foto uw
Am 1. Juli endete die Abstimmung. Der Wahlleitung zufolge stimmten knapp 78 Prozent der Wählerinnen und Wähler den Änderungen zu, die Putin mit seiner Unterschrift bereits besiegelt hatte (Für immer Präsident — Jungle World 11/2020). Äußerst hoch war die Zustimmung in Tschetschenien und auf der Krim; einzig im Autonomen Gebiet der Jamal-Nenzen erteilte eine Mehrheit dem Gesamtpaket von insgesamt 206 Änderungen eine Absage. Dazu zählen kostenlose Schulspeisungen genauso wie eine Reihe ausgeklügelter Maßnahmen, die dem Präsidenten direkt oder indirekt mehr Macht einräumen und Wladimir Putin die Möglichkeit verschaffen, bis 2036 im Amt zu bleiben.
Dieser zentrale Aspekt stand in den offiziellen Aufrufen aber im Hintergrund. Die russische Regierung bewertete das Ergebnis als »triumphales« Vertrauensvotum. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Stefan Keuter war eigens aus Deutschland angereist, um dem Spektakel beizuwohnen. Im russischen Fernsehen bescheinigte er dem Wahlablauf höchste Transparenz und stellte fest, deren Niveau liege »sogar über dem in Deutschland«.
Zumindest in Sachen Volksnähe und Service hat die Wahlkommission zweifellos Maßstäbe gesetzt. Abgestimmt werden konnte überall: zu Hause, auf der Straße, im Garten und im Hof; manchmal wurde einfach der Kofferraum eines Autos in ein Wahllokal umfunktioniert und ein Karton entsprechend beschriftet. Staatsbedienstete, vor allem aus dem Bildungs- und Gesundheitsbereich, berichteten vor der Abstimmung massenweise, aber meist anonym, ihre Vorgesetzten hätten Druck ausgeübt und die Teilnahme zur Pflicht erklärt. In Moskau waren sie angehalten, elektronisch abzustimmen. Eine Lehrerin sagte der Jungle World, in ihrer Schule sei sogar die Aufforderung erteilt worden, für die Verfassungsänderungen zu stimmen.
Pawel Lobkow, einem Journalisten des privaten oppositionellen Internetfernsehsenders Rain TV, gelang es problemlos, mehrmals abzustimmen, weshalb ihm ein Verfahren wegen Diskreditierung der Wahlen droht. Dem Journalisten David Frenkel, der gemeldeten Unregelmäßigkeiten nachgehen wollte, brach ein Polizist in einem Sankt Petersburger Wahllokal die Schulter – just in dem Moment, als Wahlunterlagen verschwanden, wie sich später herausstellte. Unabhängige Mitglieder lokaler Wahlkommissionen beklagten, ihnen seien Dokumentationen über die Herkunft von ausgefüllten Wahlzetteln vorenthalten worden, die in Kartons zur Auszählung angeschleppt wurden.
Eine reguläre Wahlbeobachtung war schon deshalb unmöglich, weil für die Abstimmung ein eigens kreiertes Regelwerk galt. Das rief heftige Debatten über deren Legitimität hervor. Ihren Zweck hat die als Plebiszit für die russische Führung inszenierte Abstimmung aber erfüllt. Als Kollateralnutzen trat wochenlang die Covid-19-Pandemie als meistdiskutiertes Thema in den Hintergrund. Putin konnte sein nach der Rentenreform von 2018, die das Renteneintrittsalter anhob, ramponiertes Image durch das solide Abstimmungsergebnis etwas aufpolieren. Zudem könnte die geänderte Verfassung auch die Grundlage für einen Machttransfer an einen Nachfolger liefern. Denn die Immunität von ehemaligen Präsidenten ist nun oberstes Gesetz.
Eine Diskussion über die Frage, wie Russland nach Putin aussehen könnte, wird von der russischen Regierung indes regelrecht unterbunden; auch die Opposition drückt sich um Prognosen. Überhaupt zeugte deren Verhalten von Argumentationsschwäche und hoffnungsloser Zerstrittenheit. Der Antikorruptionspolitiker Aleksej Nawalnyj rief zum Boykott des Referendums auf, da er kein Potential für eine großangelegte Protestkampagne sah. Er will sich auf kommende Wahlen konzentrieren. Andere, wie die Organisation »Offenes Russland« des ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij, riefen zur Teilnahme auf.
Was aber sagt das Abstimmungsergebnis aus? Von »Offenes Russland« in Moskau und Sankt Petersburg improvisierte Nachwahlbefragungen lassen vermuten, dass dort die Ablehnung der neuen Verfassung überwiegt. Immer weniger Menschen verbinden ihre Zukunft mit Putin, aber gerade die Älteren sind es gewohnt, ja zu sagen und zu glauben, dass ohnehin über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Bei den Jüngeren hingegen zieht Putin immer weniger. Da der Machtapparat trotz Erneuerungsversprechen wenig zu bieten hat, dürfte es der russischen Regierung auf längere Sicht schwerfallen, die Wankelmütigen auf ihrer Seite zu halten.
ute weinmann