»Neue Leute« in Sibirien

Das Spitzenpersonal der Regierungspartei Einiges Russland ist mit dem Ausgang der Superwahlen vom Wochenende zufrieden. Allerdings käme es einem Wunder gleich, wenn das Fazit anders ausfiele. Bei ungleichen Kräfteverhältnissen ist es schließlich ein Leichtes, wie Generalsekretär Andrej Turtschak von einem überlegenen Sieg und einer ineffektiven Wahlstrategie der Opposition zu sprechen. In den meisten Subjekten Russlands durfte die Bevölkerung drei Tage lang ihr Votum abgeben, um die Zusammensetzung lokaler und Gebietsparlamente neu zu bestimmen und freigewordene Mandate in der Staatsduma zu besetzen. In 18 Regionen standen Gouverneurswahlen an, bei denen in allen Fällen bereits im ersten Durchgang Kremlkandidaten und amtierende Regionaloberhäupter die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnten.

Im Statement des Ex-Präsidenten und Parteivorsitzenden Dmitrij Medwedjew schien hingegen eine leicht zögerliche Note durch. Er bezeichnete die Wahlen und deren Vorbereitung zwar als erfolgreich, aber beschwerlich. Die Corona-Epidemie und andere Probleme hätten sich deutlich gezeigt. Nicht, dass Einiges Russland derzeit einen völligen Kontrollverlust über das Wahlgeschehen zu befürchten hätte, doch sorgen Proteste wie in Chabarowsk für eine gewisse Unruhe im Establishment. Seit über zwei Monaten kommen die Gemüter im Fernen Osten Russlands nach der Festnahme des Gouverneurs Sergej Furgal nicht zur Ruhe und die Kritik am Moskauer Führungsstil wird nicht leiser. Außerdem gelten die Septemberwahlen als Testlauf für die Wahlen der Staatsduma im kommenden Jahr.

Zahlreiche Wahlbeobachter wurden an der Ausübung ihrer Funktion gehindert und sahen sich einem jahrelang nicht mehr dagewesenen Ausmaß an aggressiven Reaktionen konfrontiert. Die Bewegung zum Schutz der Wählerrechte »Golos« vermeldete landesweit grobe Verstöße gegen das Wahlprozedere, die Fälschungen der Stimmergebnisse nahelegen. Safes, in denen bereits abgegebene Stimmzettel lagen, wurden unrechtmäßig geöffnet und durch neue Zettel ersetzt. Inhalte von Wahlurnen lassen sich nicht dokumentieren. Wahlbeobachtern wurde zudem reihenweise verwehrt, Videos und Fotoaufnahmen zu machen oder erhielten gar keinen Zutritt zu den Wahllokalen. Etliche von ihnen berichteten von Einschüchterungsversuchen, in einigen Fällen kam es sogar zur Anwendung physischer Gewalt.

Erst am Montagabend legt der Stab des Oppositionspolitikers Aleksej Nawalny die Ergebnisse des taktischen Wahlkonzepts vor, mit dessen Hilfe die Positionen der Partei Einiges Russland geschwächt werden sollten. Klar ist aber jetzt schon, dass für die Staatspartei nicht alles ganz so glatt abgelaufen ist, wie es die Führung glaubhaft machen will. In den Städten Tomsk und Nowosibirsk, die Nawalny vor seiner Vergiftung im August besucht hatte, mussten sogar führende Kandidaten Niederlagen einstecken. Der bisherige Fraktionsvorsitzende und Vizesprecher des Tomsker Stadtparlaments, Kirill Nowoschilow, unterlag in seinem Wahlkreis Wladimir Tscholachjan von der Kommunistischen Partei (KPRF), den die taktische Wahlapp als aussichtsreichen Gegenkandidaten empfohlen hatte.

Ksenija Fadejewa, die Leiterin von Nawalnys Stab in Tomsk, erhielt in ihrem Wahlkreis deutlich mehr Stimmen als ihre Konkurrentin von Einiges Russland. Von 27 Mandaten werden mindestens 16 an in den Empfehlungen zur taktischen Wahl genannte Kandidaten vergeben. Auch in Nowosibirsk konnte die Opposition Erfolge für sich verbuchen, zumindest bei den Stadtratswahlen. Da sich die ebenfalls frisch gewählte gesetzgebende Versammlung nach einem gemischten Wahlsystem zusammensetzt, bräuchte es eine alternative Parteienstruktur, über die Nawalnys Anhängerschaft allerdings nicht verfügt.

Eine neue Partei hat indes den Einzug in das Nowosibirsker Regionalparlament geschafft und darf nach diesem Erfolg voraussichtlich auch bei den Dumawahlen antreten: »Neue Leute« ist erst im März 2020 entstanden, auf Initiative des russischen Kosmetik-, Kleidungs- und Schuhherstellers Faberlic. Mit solchen Parteizulassungen reagiert der Kreml vorsichtig auf das Bedürfnis nach neuen Gesichtern in der Politik. Aber die festgefahrenen Strukturen in Russland lassen sogar denen wenig Raum, die nur ein bisschen politisch mitmischen wollen, ohne einen Machtanspruch zu stellen.

ute weinmann

nd

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