Unter russischer Aufsicht

Besser ein brüchiger Frieden als Krieg. Es ist durchaus ein Erfolg, dass nach sechswöchigen erbitternden Kämpfen mit Tausenden Todesopfern in der Nacht auf den 10. November ein Waffenstillstand in der Region Berg-Karabach in Kraft trat. Als Grundlage dafür dient ein von Russland, Armenien und Aserbaidschan unterschriebenes Abkommen. Darin verpflichtet sich Armenien drei durch Eriwan besetzte Gebiete an Aserbaidschan zurückzugeben. Baku erhält außerdem Zugriff auf den zu Karabach gehörigen Ort Schuscha mit seiner Festung, die über der Hautstadt Stepanakert thront. Der Status von Berg-Karabach mit seiner überwiegend armenischen Bevölkerung findet in dem Text allerdings keine Erwähnung. Festgeschrieben ist lediglich die Einrichtung eines engen Korridors, über den die Verbindung zwischen Berg-Karabach und Armenien aufrecht erhalten werden soll. Ein russisches Militärkontingent von insgesamt 1960 Soldaten erhält den Auftrag, mit seiner vorerst auf fünf Jahre festgelegten Präsenz die Umsetzung der Beschlüsse zu sichern. Wenn keine Seite Widerspruch einlegt verlängert sich das Mandat automatisch um weitere fünf Jahre.

Zu Beginn der 1990er Jahre demonstrierten die armenischen Streitkräfte noch ihre Überlegenheit und sicherten sich die Kontrolle über die abtrünnige, völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörige und international nicht anerkannte Minirepublik mit weniger als 150 000 Einwohnern. Heute steht Armenien in dreifacher Hinsicht als Verlierer da. Mit modernster Militärtechnik ausgestattet — darunter auch türkische und israelische Kampfdrohnen — war die aserbaidschanische Armee klar im Vorteil; auch von türkischen Mittelsmännern angeworbene syrische Söldner kämpften auf aserbaidschanischer Seite. Am 8. November nahm die aserbaidschanische Seite Schuscha ein und damit drohte als nächster Schritt die Besetzung von Stepanakert. Erst an diesem Punkt fruchteten die zuvor wenig sichtbaren Bemühungen Russlands um einen Waffenstillstand.

Stattdessen gerät nun die armenische Führung innenpolitisch unter Beschuss. Premierminister Nikol Paschinjan rechtfertigte das Abkommen damit, dass andernfalls eine totale Niederlage unausweichlich gewesen wäre. In einer Ansprache verwies er darauf, dass der Generalstab hinter dem Abkommen stehe und auch Araik Arutjunjan, Oberhaupt von Berg-Karabach, sah angesichts herber Gebietsverluste keinen anderen Ausweg. Vielen gilt Paschinjan jedoch als Verräter. Aufgebrachte Abkommensgegner stürmten das Parlamentsgebäude und protestieren seither auf der Straße, eine Debatte unter Abgeordneten über an Paschanjan herangetragene Rücktrittsforderungen kam hingegen bislang nicht zustande. Zwar verfügt die Regierungspartei «Mein Schritt» über eine deutliche Mehrheit, doch lässt sich nicht gänzlich ausschließen, dass Teile der Opposition die angespannte Situation für eine Revanche nutzen und Paschanjan mit anderen Mitteln aus dem Amt treiben könnten.

Aserbaidschans Führung wiederum triumphiert auf ganzer Linie. Präsident Ilham Alijew sprach davon, dass der zweite Karabach-Krieg in der Geschichte als «ruhmreicher Sieg Aserbaidschans» in die Geschichte eingehe. Auf seinen persönlichen Rückhalt in der Gesellschaft trifft dies zweifellos zu, ohne Unterstützung der Türkei würde er jetzt aber vermutlich anders dastehen. Aserbaidschanische Flüchtlinge dürfen zwar unter Ägide der Vereinten Nationen wieder in Gebiete zurückkehren, aus denen sie vor 26 Jahren vertrieben worden waren, aber die zwangsläufig weichende armenische Bevölkerung zerstörte vor ihrem Abzug durch Anzünden zahlreiche Wohnhäuser. Zudem bleibt der Großteil von Berg-Karabach in armenischer Hand oder, besser gesagt, unter russischer Kontrolle, was nicht ganz zu einem fulminanten Sieg zu passen scheint.

Tatsächlich bleibt unklar, ob sich Aserbaidschan zur Erstürmung von Stepanakert überhaupt durchgerungen hätte. Denn die damit verbundenen Risiken wie hohe Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung und anschließende internationale Kritik hätten die Vorteile der jetzigen Erfolge womöglich wieder wettgemacht. Nun trägt Russland die alleinige Verantwortung für die Sicherheit in dem Konfliktgebiet — und das mit einer bescheidenen Truppenstärke.

Zunächst hatte es den Anschein, als ob Russland mit Zurückhaltung und geringem Einsatz hohe Gewinne erzielte habe. Russisches Militär drohte lediglich mit einem Gegenschlag, sollten aserbaidschanische Einheiten armenisches Territorium angreifen. Im Übrigen versuchte Außenminister Sergej Lawrow in den vergangenen Jahren vergeblich auf diplomatischem Weg ein ähnliches Szenario wie jetzt umzusetzen, freilich mit dem Unterschied, dass ganz Berg-Karabach einem russischen Friedenskontingent unterstehen sollte. In den USA, Frankreich und anderen europäischen Staaten, die in Verhandlungen involviert waren, traf dies jedoch auf Ablehnung.

Nun drängt sich die Türkei vor, die eigene Friedenstruppen nach Karabach entsenden will, obwohl das im Abkommen nicht vorgesehen ist. Lawrow wehrt sich vehement gegen solche Einsätze und betonte, es seien lediglich Beratungen mit türkischen Militärexperten vorgesehen. Doch bleibt es nicht allein bei einem verbalen Kräftemessen. Für allseitige Verwunderung sorgte die Gelassenheit Russlands nach dem versehentlichen Abschuss eines russischen Militärhubschraubers durch Aserbaidschan kurz vor Unterzeichnung des Waffenstillstands. Zu dem Zeitpunkt wollte vermutlich niemand dieses wichtige Abkommen gefährden, aber es gibt noch einen weitern Grund. Am 26. Oktober kamen in der syrischen Provinz Idlib nach einem russischen Bombenangriff auf ein Trainingscamp 78 Angehörige der als gemäßigt geltenden Failaq al-Sham-Miliz ums Leben, auf die sich die Türkei stützt. Mit der Operation dürfte Russland seine Missbilligung für die unverhohlene militärische Unterstützung Aserbaidschans durch die Türkei im Berg-Karabach-Konflikt zum Ausdruck gebracht haben.

Die internationalen Konstellationen um das kleine Berg-Karabach gestalten sich also zunehmend komplexer. Armenien hingegen hat nicht nur militärisch verloren und eine innenpolitische Krise zu bewältigen, es verstärkt auch die Abhängigkeit von Russland als einzigem verbliebenen Partner.

ute weinmann

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