Russland steht kurz vor dem Beginn der Massenimpfungen, doch viele zweifeln an der Umsetzung
Jetzt ist es nur noch eine Frage von Tagen: Noch vor Ende November will Russland mit Massenimpfungen gegen das Coronavirus beginnen. So jedenfalls äußerte sich vergangene Woche ein nicht namentlich genannter Gesprächspartner gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax und widersprach damit weniger optimistischen offiziellen Prognosen. Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow stimmte die Öffentlichkeit zuvor noch auf wenige Monate Wartezeit ein. Damit hätte Russland nicht nur weltweit den ersten Corona-Impfstoff zugelassen, sondern auch den international ausgetragenen Wettstreit um den massenweisen Einsatz eines Vakzins gewonnen. Bis zur Zielgeraden ist es trotzdem noch ein langer Weg. Ohnehin kann von einem Sieg erst die Rede sein, wenn die Pandemie vorbei ist.
Im laufenden Monat sollen etwa 300 000 Dosen des Impfstoffs Sputnik V bereitstehen, der vom in Moskau ansässigen Gamaleja-Instituts für Epidemiologie und Mikrobiologie entwickelt worden war. Für Dezember sind über zwei Millionen Dosen in Planung, Engpässe aufgrund mangelnder Herstellungskapazitäten sind allerdings schon jetzt absehbar. In der russischen Hauptstadt stünden dafür bereits Standorte für Impfzentren fest. Priorität erhalten zunächst bestimmte Berufsgruppen wie Lehrer und Ärzte, wobei grundsätzlich das Prinzip der Freiwilligkeit gelte. Wie dies auszulegen sei, erläuterte die Chefin der zuständigen russischen Aufsichtsbehörde, Anna Popowa, bereits Ende September. Bei Vorliegen gewisser berufsbedingter Risiken könne eine Impfung unbedingt notwendig sein. Aber schließlich handele es sich um eine freiwillige Entscheidung, einem bestimmten Beruf nachzugehen, so Popowa. Wer also weiter arbeiten will, dem bleibt unter Umständen keine Wahl.
Schon während der erst nach der Zulassung im Sommer erfolgten dritten Testphase von Sputnik V berichteten russische Medien von einzelnen Fällen, in denen sich für die Teilnahme an dem Experiment ausgewählte Personen unter Druck gesetzt fühlten. Auf Schritt und Tritt stößt man auf skeptische Rückmeldungen hinsichtlich der eiligen Umsetzung einer Impfstrategie. Aus einer von der Partei Einiges Russland in Auftrag gegebenen Umfrage geht hervor, dass sich über 70 Prozent der Bevölkerung nicht gegen das Coronavirus impfen lassen wollen. Auch unter Ärztinnen und Ärzten lässt sich nur eine geringe Bereitschaft dazu beobachten. Denn ob Sputnik V oder eines der anderen beiden in Russland entwickelten Vakzine überhaupt ausreichend Schutz vor einer Ansteckung bieten, steht offen. So waren auch einige Duma-Abgeordnete erkrankt, nachdem ihnen der Impfstoff verabreicht worden war.
Überhaupt liegt die Ansteckungsrate bei Parlamentarierinnen und Parlamentariern über dem Durchschnitt: 91 von 450 wurden positiv getestet. Allerdings dürfte russlandweit die Dunkelziffer der mit dem Coronavirus Infizierten deutlich über den offiziellen Werten liegen. Bei ersten Symptomen suchen viele Menschen nicht ärztliche Hilfe, sondern greifen lieber zu Hausmitteln oder besorgen sich in der Apotheke ohne Rezept verkäufliche Antibiotika. Aufgrund nicht ausreichender Testkapazitäten in staatlichen Polikliniken fallen außerdem Kosten für kommerzielle Tests an, die längst nicht alle aus eigener Tasche bezahlen können. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat liegen die Einkommen im dritten Quartal 2020 um fast fünf Prozent niedriger als im Vorjahr. Gleichzeitig stiegen die Ausgaben für Medikamente allein im Oktober um ganze 20 Prozent.
Im Übrigen räumt eine Studie der Sberbank mit dem Glauben auf, dass die Ansteckungsgefahr im Corona-Hotspot Moskau mit täglich bis zu 7000 Neuinfektionen besonders hoch sei. Neben St. Petersburg und Nischnij Nowgorod fällt die Wahrscheinlichkeit, sich in der russischen Hauptstadt anzustecken, sogar eher gering aus, während in Perm oder Woronesch das Risiko mit 15 Prozent am größten sei, gefolgt von Irkutsk und Nowosibirsk. Zwar gelten derzeit überall gewisse Einschränkungen. Einen Lockdown wie im Frühjahr, bei dem Läden, Fitnesszentren und andere Einrichtungen komplett geschlossen waren, verordneten im Herbst jedoch nur die Behörden in Burjatien. Seit dem 16. November gilt die Regelung zunächst für zwei Wochen. Allerdings regte sich unter Kleinunternehmern jetzt schon Protest, denn wo sie mit einem weiteren Einkommensausfall rechnen müssen, dürfen Einzelhandelsketten ihren Betrieb aufrechterhalten. Mit ihrem Anliegen, diese Ungleichbehandlung aufzuheben, erreichten sie bislang lediglich, dass die Staatsanwaltschaft die Rechtmäßigkeit von derlei Protestaktionen überprüft.
De facto dient die Corona-Pandemie in etlichen russischen Regionen — aber längst nicht in allen — als Vorwand für ein komplettes Demonstrationsverbot. Nicht überall halten sich die Menschen daran. So dauern in Chabarowsk die Proteste gegen die Verhaftung des gewählten ehemaligen Gouverneurs Sergej Furgal schon seit über viereinhalb Monaten an — ohne Genehmigung. Zwar laufen gegen einzelne Teilnehmende bereits Strafverfahren, aber an der Protestbereitschaft vor Ort ändert das wenig. In der Duma laufen derweil auf Initiative von Einiges Russland Debatten über weitere Verschärfungen des Versammlungsrechts.
Im Kern geht es darum, die letzten verbliebenen Aktionsformen zu verbieten, die keinem Genehmigungsverfahren unterliegen: Ein-Personen-Aktionen, bei denen mehrere Personen abwechselnd ein Plakat hochhalten, und Gruppenspaziergänge ohne politische Symbolik, sollten diese auf Meinungsbildung ausgerichtet sein. Wer nicht als Pressevertreter zu erkennen ist, gilt automatisch als Teilnehmer.
ute weinmann