Es waren vielleicht nicht genug, aber sehr viele. Am Samstag gingen Menschen von Wladiwostok bis Kaliningrad massenweise auf die Straße, allein in Moskau protestierten bis zu 40 000. Anlass war ein Aufruf von Aleksej Nawalny, der Forderung nach seiner Freilassung Ausdruck zu verschaffen. Denn von der Reaktion der russischen Gesellschaft auf die Festnahme nach seiner Rückkehr aus Berlin hängt ab, wie lange er in Haft bleibt.
Bislang wagte es nur eine kleine Minderheit, mit ihrer Kritik an den Verhältnissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Oft handelte es sich nur um lokale Ereignisse, die Menschen zu aktivem Handeln bewegten. Am 23. Januar trat indes ein, was äußert selten passiert: In der Hauptstadt und in den Regionen fanden zeitgleich Proteste mit einer gemeinsamen Agenda statt. Nawalny mag in Russland von allen Oppositionellen über das größte Mobilisierungspotenzial verfügen, letztlich aber geht es gar nicht um seine Person, sondern um das Bedürfnis nach Veränderung und um den Anspruch mitzureden. Und um Wut auf sich maßlos an Staatseigentum bereichernde Eliten.
Vielerorts kam es seit Jahren nicht mehr zu derart großen politischen Protestkundgebungen. Daran ändert auch der spöttische Kommentar des Kreml-Pressesprechers Dmitrij Peskow nichts, wonach die Zahl der Protestierenden hinter der Masse an Putin-Wählern verblasse. Aus ihm spricht die Arroganz der Macht, die auf einen ausgefeilten Repressionsapparat und eine willfährige Justiz bauen kann. Über 3700 Festnahmen, darunter fast die Hälfte in Moskau, stellen in der jüngsten Geschichte einen Rekord dar. Polizeikräfte setzten Schlagstöcke ein und prügelten selbst auf Journalistinnen und Journalisten ein. Jetzt steht die juristische Aufarbeitung an, die angesichts Ende letzten Jahres verschärfter Gesetze mit großem Aufwand betrieben werden dürfte. Über ein Dutzend Strafermittlungen in mehreren Städten wurden bereits eingeleitet, unter anderem wegen Gewalt gegenüber Staatsvertretern, Sachbeschädigung und Straßenblockaden.
Doch im Unterschied zu früheren Protestkundgebungen zeigten sich dieses Mal stellenweise Ansätze spontaner und koordinierter Gegenwehr, wie es für die russische Demonstrationskultur eher untypisch ist. Schneebälle flogen haufenweise und gezielt gegen behelmte Einsatzkräfte, ein schwarzer Dienstwagen wurde demoliert, Polizeiabsperrungen wurden durchbrochen. Ein durchtrainierter junger Tschetschene attackierte im Alleingang OMON-Angehörige mit Fäusten und Füßen.
Schon wurden Stimmen aus kremlkritischen Kreisen laut, die jegliche Form militanten Auftretens harsch verurteilten, weil sie auf einen ausschließlich friedlichen Protestverlauf beharren — im unbeirrbaren Glauben, dadurch per se weniger angreifbar zu sein. Nur was tun, wenn die Gegenseite sich nicht auf gemeinsame Spielregeln einlässt und ihr Gewaltmonopol nach Lust und Laune einsetzt? Gewaltfrei lief es im Übrigen nur dort ab, wo sich die Polizei zurückhielt und praktisch niemanden festnahm, wie beispielsweise in Perm oder Astrachan.
In Moskau mit seiner hohen Konzentration an Sicherheitskräften dürfte ein härteres Vorgehen als Konsequenz aus den Ereignissen vom Samstag unvermeidlich sein. Klar ist auch, dass diese ihr Potenzial längst nicht ausgeschöpft haben und Szenen, wie sie sich nach den belarussischen Präsidentschaftswahlen in Minsk beobachten ließen, auch in der russischen Hauptstadt denkbar sind. In den Regionen sieht es hingegen anders aus. Dort haben Polizei und Staatsschutz zwar leichtes Spiel, die überschaubare Anzahl an Aktivistinnen und Aktivisten zu terrorisieren und Angst vor Nachahmung zu schüren. Aber diese Rechnung geht offenbar nicht mehr auf, wenn nicht Hunderte, sondern Tausende sich trotz Verwarnungen auf die Straße wagen.
Anfang Februar entscheidet ein Gericht über Nawalnys weiteren Verbleib in Haft. Am Wochenende zuvor sollen die Proteste weitergehen, kündigte Leonid Wolkow an, quasi seine rechte Hand, der sich zur Zeit nicht in Russland aufhält. Führende Mitarbeiter des Fonds für Korruptionsbekämpfung und Stabsangehörige wurden in Moskau und vielen weiteren Städten noch vor den angekündigten Protesten prophylaktisch in Polizeigewahrsam genommen. Das gleiche Schicksal wird bei weiteren Aktionen jene ereilen, die die Behörden für Drahtzieher halten. Insofern läuft die häufig geäußerte Kritik aus politisch versierten Kreisen zumindest teilweise ins Leere, wonach ein Konzept und konkrete Anweisungen für das Vorgehen bei Demonstrationen fehlten.
Dieses offensichtliche Manko kann derzeit schlichtweg niemand ausgleichen, da sich nach den Protesten für faire Wahlen 2012 die Rahmenbedingungen für politische Selbstorganisation um ein Vielfaches verschlechtert haben. Gleichzeitig haben sich über Bürgerinitiativen lokale horizontale Netzwerke gebildet, die jedoch nicht einfach in die Rolle einer Avantgarde schlüpfen können, die vorgibt, was genau jetzt zu tun sei. Punkten können die Protestbereiten derzeit eigentlich nur mit Entschlossenheit und der Überwindung ihrer eigenen Ängste vor repressiven Maßnahmen. Das Wissen, nicht mehr nur einer kleinen Minderheit anzugehören, sondern einer, die ihre verbliebenen Bürgerrechte ernst nimmt und bereit ist, diese zu verteidigen, kann zumindest zeitweise gewisse Schwächen kaschieren. Allerdings nicht auf Dauer.
Fest steht, dass Nawalny ein Tempo vorgegeben hat, wo jeder Rückzieher die Gefahr einer totalen Niederlage birgt. Der Oppositionspolitiker hat seit Jahresbeginn bereits zwei Trümpfe gezogen — seine Rückkehr in der Rolle als dem tödlichen Nervengift Nowitschok trotzender Herausforderer des Kremls und die Veröffentlichung eines fast zweistündigen Videos über Putins geschmackloses, völlig überdimensioniertes Freizeitdomizil, in das bereits über eine Milliarde Euro an Baukosten geflossen ist. Von dem der Präsident behauptet, es gehöre ihm gar nicht. Auf gewisse Weise stimmt das sogar. Und zwar weniger, weil die Eigentumsverhältnisse über ein komplexes System so geregelt sind, dass Putins Name in keinem zugänglichen Eintrag auftaucht, sondern weil die Gelder letztlich aus der Staatskasse stammen. Damit ist der Palast mit unterirdischem Eishockeyfeld und allerlei vor den Augen der Öffentlichkeit streng geheimgehaltenem Schnickschnack, um mal einen aus der Mode gekommenen Begriff zu bemühen, letztlich Volkseigentum.
Das Video wurde bei Youtube mittlerweile bereits über 87 Millionen angeklickt. Viele Details davon waren bereits zuvor bekannt, doch die Dramaturgie führt gerade dem jüngeren Publikum eine Kontinuität demonstrativ vor Augen, die sonst im gegenwärtigen Narrativ über den Präsidenten und seinen spezifischen Aufstieg vom kleinen KGB-Kader in Dresden zum faktisch reichsten Mann Russlands keinen Platz hat. Ob Nawalny noch über weitere Trümpfe verfügt, ist ungewiss, sich darauf zu verlassen wäre aber ohnehin fatal. Jetzt wäre es an der Zeit, unter Beweis zustellen, dass die russische Opposition an Substanz gewinnt und nicht nur mit Nawalny handlungsfähig ist, sondern ohne ihn.
ute weinmann