Seit die Welt um die Existenz russischer Trolle weiß, wimmelt es in aufgeklärten Demokratien nur so von Russland-Experten. Wer die Presse aufmerksam liest, darf sich sogar mit dem Wissen brüsten, dass die auf Zwistigkeiten gepolten Schreiberlinge ursprünglich ihren Geschäftssitz im St. Petersburger Stadtteil Olgino einnahmen, vor dem Umzug in größere und bequemere Räumlichkeiten. Die umtriebigen Trolle mischen überall mit, nur mit eigenen Augen gesehen hat sie von Berlin oder München aus vermutlich kaum jemand. Aber das verhält sich mit Trollen aus weniger politisch aufgeladenen Zusammenhängen ja auch so – schließlich handelt es sich eigentlich um Fabelwesen. Dabei kann sich die russische Spezies, was ihren Bekanntheitsgrad anbelangt, sogar mit Präsident Wladimir Putin messen.
Bei der Lektüre deutscher Medien entsteht der Eindruck, dass Putin und seine Trolle im einzigen relevanten Team Russlands spielen. Seit letzten Sommer schweift der Blick häufiger auch auf den einzigen Gegenspieler ab, der sich einen Namen gemacht hat. Den Oppositionellen Aleksej Nawalny kennen in Deutschland nach seiner Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok jedenfalls weitaus mehr Menschen als zuvor. Weil Amnesty International dem bekanntesten Häftling Russlands den zuvor anerkannten Status eines «Gewissensgefangenen» einige Wochen später mit der Begründung entzog, er habe Gewalt und Diskriminierung befürwortet und sich davon bis heute nicht distanziert, erhielt sein über Monate hinweg medial aufbereitetes positives Image plötzlich einen Kratzer. Dabei ließen sich an der Person Nawalnys die Widersprüchlichkeiten in der russischen Gesellschaft im Allgemeinen und der liberalen Opposition im Besonderen hervorragend illustrieren. Das wird den auf Trolle fixierten Beobachtern dann aber schon wieder zu kompliziert.
Die russische Führung bietet reichlich Anlass zur Gegenrede, weil aber die Kritik so leicht von der Hand geht, braucht es offenbar keine Zwischentöne. Viel wichtiger ist es, sich von einem geopolitischen Standpunkt aus unzweideutig zu positionieren. Was den irreführend als «Putin-Versteher» bezeichneten Fürsprechern des Kremls als oberstes Gebot gilt, taugt prinzipiell als Ansatz auch für dessen Kritiker, nur kommen diese zu gegenteiligen Schlussfolgerungen, weil zur Verortung Letzterer Kompromisse in Sachen Demokratie und Menschenrechte als universelle Werte keine Option darstellen. Dieser erfreuliche Umstand erweist sich als analytisches Instrument zum Verstehen einer Gesellschaft, in der andere als die bekannten und vertrauten Spielregeln gelten, allerdings als wenig hilfreich, zumindest solange andere außen vor bleiben.
Irritationen entstehen fast zwangsläufig, wenn es um die Einstufung politischer Vorlieben oder Loyalitäten gegenüber der russischen Staatsmacht geht. Wahlen dienen in Russland Legitimationszwecken einer fest im Sattel sitzenden Herrschaftsformation, nicht zur politischen Teilhabe. Hohe Umfragewerte zugunsten Putins für bare Münze zu nehmen, heißt die spezifischen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu ignorieren, unter denen Umfragen stattfinden. Wo die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt ist, lassen viele Menschen Vorsicht walten und tendieren dazu – bewusst oder unbewusst – affirmative Antworten zu liefern, wenn sie nach ihrem Zuspruch für die politische Führung gefragt werden. Ein Ja für Putin stellt kein Glaubensbekenntnis für den Präsidenten dar, genauso wenig wie alle, die sich nach der Festnahme Nawalnys im Januar landesweit an Protesten beteiligten, hinter Nawalny stehen oder alle seine Ansichten vertreten.
Die Unterschiede innerhalb des Protestlagers fallen weitaus größer als die Gemeinsamkeiten aus und damit das so bleibt, unterbindet die Staatsmacht mit steigendem Aufwand und Dreistigkeit jegliche noch so geringfügigen Versuche, fraktionsübergreifende Zusammenhänge zu schaffen. Allein in Moskau wurden an den vergangenen Wochenenden mehrere Zusammenkünfte oppositioneller Politiker unterbunden, einige sogar zu Administrativhaft und Geldbußen verdonnert. Es brodelt an vielen Stellen, wobei es trotz allgegenwärtiger Repressionen durchaus auch etliche Erfolgsgeschichten zu erzählen gäbe. Nur besitzen diese hinsichtlich der jeweiligen geopolitischen Selbstverortung Null Relevanz und fallen somit unter den Wahrnehmungshorizont.
Nicht einmal die sich auf allen politischen Ebenen durchsetzende Erkenntnis, wonach einzig schnell voranschreitende Massenimpfungen ein Ende der Corona-Pandemie in Aussicht stellen, ändert etwas daran, dass die Debatte um den russischen Impfstoff Sputnik V den gleichen unsäglichen Verlauf nimmt, wie jede andere auch über den kapriziösen östlichen Nachbarn. Sputnik V gilt vielen vorrangig als Propagandawaffe, denn als potenzielles Mittel zur Pandemie-Bekämpfung – in dieser Reihenfolge, nicht einmal in umgekehrter. Angesichts des deutschen Impfdesasters möchte man sich gar nicht vorstellen, wie sich das Management von Gesundheitsminister Jens Spahn auf den riesigen Flächenstaat Russland übertragen ließe.
Zweifellos hakt es auch in Russland an vielen Stellen, insbesondere bei der Impfstoff-Produktion und in Bezug auf die Logistik. Einige wenige Regionen haben noch nicht einmal mit der Impfkampagne begonnen, im Nordkaukasus läuft sie schleppend an. Übrigens liegt nicht Moskau an erster Stelle, sondern Magadan im Fernen Osten mit einer Durchimpfungsquote von derzeit etwa zehn Prozent. Dieses äußerst ernüchternde Zwischenergebnis lässt sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass die Impfungen auf freiwilliger Basis stattfinden. Wer sich impfen lassen wollte hat dies dort, wo der Zugang ohne Probleme möglich ist, inzwischen getan. Die bei Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen übliche Praxis, Druck durch staatliche Stellen oder Arbeitgeber auf Wahlberechtigte auszuüben, fällt ausgerechnet bei einer gesundheitspolitischen hochbrisanten Angelegenheit weg. Zwar ruft auch Zwang Gegenwehr hervor, aber ohne ihn sieht sich ein wesentlicher Teil der russischen Bevölkerungen offenbar gar nicht erst in der Verantwortung, einen persönlichen Beitrag zur Pandemie-Bekämpfung zu leisten.
Wo gerne auf eine Monate zurückliegende Umfrage verwiesen wird, die die Impfskepsis unter russischen Krankenhausbeschäftigten unter Beweis stellt, könnte man dem entgegenhalten, dass sich auch unter deutschem Pflegepersonal in Altenheimen oder Krankenhäusern und sogar Ärztinnen und Ärzten auf Intensivstationen die Impfbereitschaft in Grenzen hält. An Sputnik allein kann es also nicht liegen. Ob diese sich von einer publikumsträchtigen Impfung von Bundeskanzlerin Angela Merkel beeindrucken ließen, sei dahin gestellt. Doch scheint es Leute zu geben, die dem Glauben anhängen, wenn sich Putin eine Sputnik-Dosis verpassen lässt, verwandelten sich alle Russinnen und Russen automatisch in Pawlowsche Hunde und täten es ihm gleich. Lange wollte sich der Kremlchef dazu nicht durchringen – ein echter russischer muzhik bekundet schließlich keine Schwäche. Er trägt nicht einmal eine Maske. Dafür zu werben ist Sache prominenter Kulturschaffender, nicht die von Staatsmännern. Zumal das Grundvertrauen in den Staat und seine medizinischen Einrichtungen in der russischen Bevölkerung weniger stark ausgeprägt ist, als es vielen aus der Ferne scheint. Nach dem 23. März kann der Pawlow-Effekt übrigens endlich in aller Öffentlichkeit erforscht werden, denn für den Tag hat Putin seine Erstimpfung angekündigt.
Dabei stellt sich die Frage, welche Instanz überhaupt in der Lage wäre, deutsche Skeptiker von Sputnik V zu überzeugen. Putin scheint dafür naturgemäß nicht der geeignete Mann zu sein, aber auch die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA wird aus oben genannten Gründen selbst mit einem sorgfältig formulierten Urteil über das Vakzin weder sachlich begründete noch politische Zweifel aus der Welt schaffen. Zumal noch weitere meinungsbildende Argumentationsmuster ins Spiel kommen. Dass sich beispielsweise Alice Weidel während ihres Moskau-Aufenthaltes keine Impfdosis verpassen ließ, ist ein dürftiger Einwand und muss außerdem nichts mit Misstrauen gegenüber Sputnik V zu tun haben. Es gibt andere gute Gründe, mit der Impfung noch zu warten. Selbst rechte Politprofis wie Weidel dürften bisweilen anstelle ihrer sozialunverträglichen ideologischen Mission praktischen Erwägungen den Vorzug einräumen. Nach der ersten Spritze müsste sie drei Wochen später zur zweiten anreisen oder Sputnik tiefgekühlt im Handgepäck mitnehmen.
Schwerer dürfte das Kalkül wiegen, dass das russische Vakzin in der Europäischen Union erst am Anfang eines langwierigen Anerkennungsverfahren steht. Bis zum Abschluss werden noch viele Monate vergehen und solange wird Sputnik zumindest in Deutschland kaum im geplanten «Grünen Zertifikat» auftauchen, das in Zukunft als Grundlage für Reisen ohne Quarantäne und Testpflicht innerhalb der EU dienen soll. Auch die Prüfung von anderen Impfstoffen nahm geraume Zeit in Anspruch, da Sputnik als Politikum gilt, ist eher mit einer zusätzlichen Verzögerung zu rechnen. Außerdem ist außereuropäische Konkurrenz sicherlich nicht gerne gesehen, was auch auf chinesische Impfstoffe zutreffen dürfte. Die Pandemie hat den Alltag der Menschen verändert, keineswegs aber die Mechanismen des globalen Kapitalismus ausgehebelt. Da gehört Russland zwar dazu, aber was Importe anbelangt, hält sich die deutsche Regierung lieber an Energieträger, die der eigene Grund und Boden nicht zu bieten hat. Wo als humanistisches Argument gegen Sputnik gelegentlich angeführt wird, dass man der russischen Bevölkerung nichts wegnehmen will, scheint es in Bezug auf Gaslieferungen für deutsche Haushalte keine Bedenken zu geben, obwohl Millionen Menschen in Russland bis heute über keinen Gasanschluss verfügen.
Kurz und gut: Wer sich nicht mit Sputnik V impfen lassen will, soll es bleiben lassen. Wer in Russland lebt erhält jedoch auch perspektivisch keinen Zugang zu westlichen Vakzinen.
ute weinmann