Der Kreml zieht die Schraube an

Im Herbst stehen in Russland Parlamentswahlen an. Wladimir Putin und sein Machtapparat versuchen mit Strafbefehlen und neuen Gesetzen, so viele Oppositionelle wie möglich bereits im Vorfeld von den Wahlen auszuschliessen.

Seinen 45. Geburtstag am 4. Juni verbrachte Alexei Nawalny in einer Gefängniszelle. Aber das sei nebensächlich, liess der international wohl bekannteste politische Gefangene Russlands per Instagram verlauten. «Ich wollte nur ungern zum Tier werden» – hiess es in dem Post. Das sei ihm gelungen; auch an seinen Überzeugungen habe sich nichts geändert. Ein schwacher Trost.

Denn allein im Nachgang der landesweiten Proteste, die auf seine Festnahme im Januar folgten, wurden bisher 116 Strafverfahren eingeleitet. Und mit Blick auf die im September anstehenden Duma-Wahlen arbeiten die Regierung, die Legislative und der Polizeiapparat mittlerweile eifrig daran, Oppositionellen den Zugang zum Parlament zu verwehren.

So unterzeichnete Präsident Wladimir Putin letzte Woche ein Gesetz, das Mitte April im gleichen Atemzug wie das Verbot von Nawalnys Fonds zur Korruptionsbekämpfung auf den Weg gebracht worden war. Es untersagt Personen, die einer extremistischen oder terroristischen Organisation nahestehen, über mehrere Jahre eine Kandidatur bei allen Wahlen. Sowohl die Mitarbeit als auch eine unterstützende Hilfeleistung gelten als Ausschlusskriterium – und zwar rückwirkend. Wer bis zu drei Jahre vor dem Verbot einer solchen Organisation eine leitende Position besetzte, fällt automatisch unter die neue Regelung. Wer im Jahr zuvor Geld gespendet oder sich in einem Blogbeitrag wohlwollend zu deren Tätigkeit geäussert hat, kann per Gerichtsbeschluss auf eine schwarze Liste gesetzt werden. Es ist klar, auf wen dieses Gesetz zielt: auf die aktivistischen und kremlkritischen Strukturen, die Nawalny in den letzten Jahren mit aufgebaut hat.

Prominenter Gegner flüchtet ins Exil

Andere exponierte Oppositionelle aus dem liberalen Lager sehen sich drastischeren Methoden ausgesetzt. Ende Mai wurde Andrei Piwowarow kurz vor dem Abflug nach Warschau in Sankt Petersburg aus dem Flugzeug geholt; er befindet sich mittlerweile im südrussischen Krasnodar in Untersuchungshaft. Wenige Tage vor Piwowarows Verhaftung gab die von ihm geleitete Organisation Offenes Russland ihre endgültige Auflösung bekannt, um MitarbeiterInnen und Mitglieder vor der Strafverfolgung zu schützen. Die Organisation, 2001 vom heute im Exil lebenden Oligarchen Michail Chodorkowski gegründet, wird in Russland als «unerwünscht» eingestuft; Verbindungen zur gleichnamigen britischen Stiftung gelten als strafbar. Anlass für die aktuellen Strafermittlungen war offenbar ein Facebook-Eintrag vom Sommer 2020, in dem Piwowarow den Erfolg der Vereinigten Demokraten feierte, eines von ihm mit initiierten Zusammenschlusses oppositioneller KandidatInnen. Als tatsächlichen Grund für seine Verhaftung vermutet Piwowarow seine Absicht, im September bei den Duma-Wahlen anzutreten.

Damit ihn nicht dasselbe Schicksal ereilt, flüchtete Dmitri Gudkow letzten Sonntag nach Kiew. Er gehört zu den wenigen kremlkritischen Politikprofis mit Parlamentserfahrung. Über die Partei Gerechtes Russland erlangte er 2011 ein Duma-Mandat. 2016 scheiterte er, dieses Mal als Kandidat der liberalen Jabloko-Partei. Gudkow hatte vor, es dieses Jahr erneut zu versuchen. Doch Anfang Juni rückte bei ihm ein Grossaufgebot der Polizei zur Hausdurchsuchung an. Gegen ihn und seine Tante laufen Ermittlungen wegen einer angeblich nicht getätigten Mietzahlung. Beide wurden in Polizeigewahrsam genommen und zwei Tage später wieder entlassen. Gudkow teilte mit, dass ihm aus dem Umfeld der Präsidialadministration mit einer Haftstrafe gedroht wurde, sollte er Russland nicht verlassen. Das russische Nachrichtenportal Meduza will in Erfahrung gebracht haben, dass seine Freilassung auf Druck der Moskauer Stadtverwaltung erfolgt sei, zu welcher der Politiker einen guten Draht habe. Wie dem auch sei: Lautstarke Solidaritätsbekundungen für Gudkow blieben aus, anders als nach Nawalnys triumphaler Rückkehr aus Berlin.

Wenn niemand mehr sprechen will

Von der mit immer rasanterem Tempo umgesetzten politischen Flurbereinigung sind auch Medien nicht ausgeschlossen. Während das Ministerium für digitale Entwicklung dafür plädiert, staatliche Medien gleich ganz von der Rechenschaftspflicht über Einnahmen aus dem Ausland zu befreien, da hier keine Gefahr einer ausländischen Einmischung bestehe, sehen sich unabhängige Medien aufgrund ihres Status als «ausländische Agenten» zunehmend gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben.

So auch das erst letztes Jahr gegründete Portal VTimes, das sich mit fundierten Analysen einen Namen gemacht hat. Vergeblich wehrten sich Leitung und Belegschaft dagegen, in eine oppositionelle Nische gedrängt zu werden. Das jedoch sei unausweichlich, weil staatliche Stellen, Geschäftsleute und selbst unabhängige ExpertInnen sich aus Angst weigern würden, jenen Medien einen Kommentar abzugeben, die als «Agenten» gebrandmarkt sind. Und auch die WerbekundInnen ziehen sich zurück. Am 12. Juni ist für VTimes Feierabend.

Letzte Woche hat mit Newsru.com eine zweite Nachrichtenseite aufgegeben. Das unabhängige Portal hatte seit mehr als zwanzig Jahren bestanden. Auf der Rangliste der Pressefreiheit ist Russland mittlerweile auf Platz 150 abgerutscht. Reporter ohne Grenzen zählt die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor inzwischen zu den weltweit grössten Feinden des Internets.

ute weinman

WOZ

Запись опубликована в рубрике Gerichtsprozesse, Protest, Wahlen. Добавьте в закладки постоянную ссылку.