Der Staat bestimmt die Erinnerung

Historische Aufarbeitung ist in Russland vermintes Terrain. Die komplexe russische Geschichte hält genügend Fallstricke bereit. Dazu kommt die Schwierigkeit, sich von liebgewordenen ideologischen Konstrukten zu trennen oder sie zumindest in Frage zu stellen. Mal einen Perspektivwechsel zu wagen, ohne der Versuchung zu verfallen, harte Fakten im Sinne der gängigen Konjunktur zu deuten. Memorial hat in diesem Sinne akribische Arbeit geleistet, mal parteiisch, mal neutral. Bei aller Kritik am untergegangenen Sowjetsystem sind viele heikle Fragen trotzdem unbeantwortet geblieben.

So wird bis heute viel über die Opfer des Stalinismus, aber wenig über die Täter gesprochen. Auch weil die Täter nicht selten früher oder später selbst von den Mühlen der staatlichen Repressionsmaschinerie zermahlen wurden. In mehr als 30 Jahren gab es für Memorial Momente der Anerkennung, jetzt soll damit Schluss sein. Mit der Auflösung des Vereins wird indes keineswegs das Andenken an unter Stalin Ermordete an sich verboten. Nur will der Staat selber darüber bestimmen, wer, wann und wie in der Öffentlichkeit über die Vergangenheit redet. Die Geschichte wird de facto einem Prozess der Entgesellschaftung unterzogen — wie immer mehr andere Themen auch.

Memorial ist unbequem und verfügt über eine laute Stimme. Das allein ist dem Machtapparat suspekt, dessen Aufgabe es ist, alle, die das Land nicht freiwillig verlassen, auf Linie zu bringen. Oder zum Schweigen. Dieser Ansatz funktioniert — aber nie auf Dauer.

ute weinmann

nd

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