Diplomatisches Sperrfeuer

Russland sammelt Truppen an der Grenze zur Ukraine. Die USA war­nen vor einer drohenden Invasion. Während die russische Regie­rung entsprechende Pläne abstreitet, will die ukrainische Regierung vor allem die Wirtschaft des Landes schützen – aber auch militärisch vorbereitet sein.

Jenseits und diesseits des Atlantiks nimmt das Rätselraten um die Pläne der russischen Führung kein Ende. Gleichzeitig steht der Ost-West-Verhandlungsprozess erst am Anfang. Nach ersten Gesprächen im Januar bestand der Kreml darauf, von den USA und der Nato schriftliche Antworten auf seine im Dezember formulierten Maximalforderungen nach verbindlichen Sicherheitsgarantien zu bekommen. Anfang Februar gelangten diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Stellungnahmen an die Presse. Moskau reagierte auf ihren Inhalt enttäuscht. Außenminister Sergej Lawrow stellte klar, dass für Russland die Ablehnung der Nato-Osterweiterung höchste Priorität genieße, aber in dieser Frage gäbe es kein Entgegenkommen. Immerhin biete das Dokument eine Option für einen ernsthaften Dialog über zweitrangige Sicherheitsfragen.

Vor dem Hintergrund einer seltsam aufgeheizten Stimmung scheint mittlerweile alles möglich. Während über neue Sanktionen gegen Russland diskutiert wird, wartet die US-Regierung mit wiederholten Ankündigen über eine unmittelbar bevorstehende russische Invasion in die Ukraine auf. Der britische Geheimdienst will gar Pläne des Kremls in Erfahrung gebracht haben, eine Marionetten-Regime in Kiew zu installieren. Von der allgemeinen Anspannung zeugt auch die versehentlich von der Nachrichtenagentur Bloomberg veröffentlichte Schlagzeile «Russland marschiert in die Ukraine ein». Die Bild Zeitung versucht ebenfalls das Thema auszuschlachten.

Schrille Töne bestimmen auch das politische, diplomatische Alltagsgeschäft in Russland. Maria Sacharowa, die nie um drastische Worte verlegene Sprecherin des Außenministeriums, reagierte auf die jüngsten amerikanischen und deutschen Enthüllungen in ihrem Telegram-Kanal unverhohlen: Hinter diesen Salven stünden «echte Perverse, die zu allem bereit sind». Schon seit Wochen geben sich offizielle Vertreterinnen und Vertreter Russlands in hohem Grade irritiert über die Anschuldigen aus dem Westen, einen Krieg gegen die Ukraine anzuzetteln. Wenn es überhaupt zu Kampfhandlungen käme, dann einzig und allein nach einer Provokation durch ukrainisches Militär oder die USA und Großbritannien. Die Erkenntnis, dass der flexible Umgang mit der Wahrheit kein Alleinstellungsmerkmal russischer Propagandainstitutionen darstellt, sorgt im Establishment ebenfalls für zusätzliches Befremden.

Wenn sie ihr westliches Gegenüber der Lüge überführt, da Russland schließlich immer noch keinen Angriff gestartet habe, triumphiert Sarachowa geradezu. Die Nato leiste der Ukraine einen Bärendienst, denn wer wolle schon ein Land in seinen Klub aufnehmen, das ständig Gefahr läuft von Russland angegriffen zu werden? In diesem salopp vorgebrachten Statement verbirgt sich wohl das zentrale Kalkül des Kremls. Doch es enthält keinerlei Hinweise darüber, wie lange die derzeitige hohe Eskalationsstufe aufrechterhalten werden soll und kann.

Fakt ist, dass sich Einheiten der russischen Streitkräfte auf der Krim, in Belarus und an einigen Stellen jenseits der Ostgrenze der Ukraine längerfristig eingerichtet haben. Jüngste Satellitenaufnahmen des US-amerikanischen Unternehmens Maxar Technologies zeigen neben neu eingetroffener Militärtechnik, wie beispielsweise Iskander-Raketenkomplexe in Belarus, auch Armeezelte. Das spricht für ein Anwachsen der Truppenstärke vor Ort. Bei einem Besuch in Minsk kündigte der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu eine ganze Reihe gemeinsamer Militärmanöver an. Für das aktuell geplante wurden russische Einheiten zum westlichen Partner verlegt, während noch im laufenden Jahr die Entsendung belarussischer Truppen in die fernöstlichen Gebiete Russlands anstehe.

Russland hat seine Armee mit enormem finanziellen Aufwand modernisiert und fühlt sich gerüstet die Rolle der Supermacht auszufüllen. Frei nach dem Motto «Wir tun, weil wir können» erlaubt der Kreml sich über Konventionen der postsowjetischen Ära hinwegzusetzen und sein militärisches Drohpotenzial demonstrativ zur Geltung zu bringen. Dabei stellt dieser Ansatz einen Bruch mit dem taktischen Vorgehen in der Vergangenheit dar: Wladimir Putin ist Anhänger und Meister geheimer Sonderoperationen, die aktuelle Drohkulisse widerspricht diesem Prinzip nicht nur, sondern verfolgt augenscheinlich eine andere Zielsetzung.

Das Militär als Druckmittel ist keineswegs dazu geeignet, Kiew zur Loyalität gegenüber Russland zu bewegen, aber es taugte bisher dazu, die USA und das Nato-Bündnis zu Gesprächen zu bewegen. Nur liegt der Fokus der USA auf der Ukraine, während Russland über eigene Befindlichkeiten und globale Sicherheitsfragen debattieren will. Mit Donald Trump als US-Präsident schien dies keine Option gewesen zu sein, nach dem Machtwechsel in Washington mag sich der Kreml hingegen eine Chance ausgerechnet zu haben, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.

Die Ukraine hat derweil mit einer Verschärfung der ohnehin angespannten Wirtschaftslage im Land zu kämpfen. Präsident Wolodymyr Selenskyj bezifferte die finanziellen Verluste vor dem Hintergrund der aktuellen Krise auf 12,5 Milliarden US-Dollar. Ukrainische Wirtschaftsexperten halten diese Zahl zwar für zu hoch angesetzt, weil sich Kapitalabfluss und der Rückzug ausländischer Investoren schlecht exakt messen lassen. Aber allein schon der Kursverfall veranschaulicht die Folgen der jetzigen Krise, zumal praktisch alle Wirtschaftsbereiche schon lange mit Problemen zu kämpfen haben. Dabei lebt jetzt die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung in Armut und nach Angaben von UNICEF leiden über eine Million Menschen an Hunger.

Dass Selenskyj sich gegen Panikmache ausspricht, kann demnach als verzweifelter Versuch der wirtschaftlichen Schadensbegrenzung interpretiert werden. Seine Haltung bringt jedoch auch die Tatsache zum Ausdruck, dass der Kriegszustand mit Russland de facto bereits fast acht Jahre andauert und an der Grenze zu den von Russland mit Waffen versorgten Volksrepubliken im Donbass seither kaum ein Monat ohne Todesopfer vergeht. In einem Interview für die italienische Zeitung Repubblica stufte Verteidigungsminister Oleksij Resnikow die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Eskalation im Augenblick als niedrig ein und betonte, dass Russlands Truppenstärke an der Grenze zur Ukraine nicht ausreiche für einen großangelegten Angriff. Die USA, Großbritannien und Kanada liefern derweil an die Ukraine Waffen und Munition. Selenskyj stellte zudem die Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht bis zum Jahr 2024 in Aussicht bei gleichzeitiger Umwandlung der Streitkräfte in eine Berufsarmee.

Seit dem 1. Januar gilt außerdem ein Gesetz, das durch die Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung in lokale Verteidigungseinheiten die nationale Wehrhaftigkeit stärken soll. In Friedenszeiten wird eine Stärke von Zehntausend Personen angepeilt. Rekrutierung und Vorbereitung vor Ort laufen bereits, unumstritten ist die Initiative allerdings nicht. Fraglich ist, wie die Festnahme einer Gruppe von Personen, darunter ein ehemaliger Polizeioberst mit Bezug zur Donezker Volksrepublike, zu werten ist, denen die Vorbereitung von Massenunruhen zur inneren Destabilisierung vorgeworfen wird. Ende Januar rapportierte das Innenministerium über die Vereitelung solcher Aktionen in mehreren ukrainischen Städten. In der nahe der russischen Grenze gelegenen Grossstadt Charkiw wiederum demonstrierten vergangenen Samstag über 5000 Menschen bei einem «Marsch der Einheit» ihre Zugehörigkeit zur Ukraine.

Östlich der Grenze sind Demonstrationen bis auf Ausnahmefälle längst verboten. Weder lässt sich in der russischen Bevölkerung eine begeisterte Zustimmung zu einem Militäreinsatz beobachten, noch existiert eine politisch relevante Friedensbewegung. Einige wenige stellen sich mit Plakaten auf die Straße und werden im Anschluss meist von der Polizei abgeführt. Es ist beileibe kein Zufall, dass kremlkritische Medien jüngst ausgiebig an den Jahrestag der Rückkehr des Oppositionellen Aleksej Nawalnyj aus Deutschland und seine sofortige Festnahme erinnerten, die anschließenden landesweiten Massenproteste jedoch bestenfalls mit einer Randnotiz würdigten. Die massiven Repressionen der letzten zwölf Monate haben die russische Gesellschaft weitgehend verstummen lassen. Zwar wehren sich Menschen nach wie vor — auch in Gruppen organisiert — gegen Missstände im Bildungswesen und vielen anderen den Alltag prägenden Bereichen, aber politische Meinungsäußerung ist mit hohen Risiken verbunden, die nur noch wenige bereit sind einzugehen.

Unter den wenigen in Russland veröffentlichten Antikriegserklärungen fällt besonders die der «Russischen Offiziersversammlung» auf, einem vor zwanzig Jahren gegründeten Zusammenschluss ehemaliger und aktiver Angehöriger der Streitkräfte und anderer staatlicher Sicherheitsstrukturen. Deren Vorsitzender Generaloberst Leonid Iwaschow fordert darin die russische Führung auf, von ihrer verbrecherischen Kriegsprovokation Abstand zu nehmen. Darunter finden sich hunderte Kommentare, darunter selbstverständlich auch die offizielle Beteuerung, dass Russland keine derartigen Absichten verfolge.

ute weinmann

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