Das böse R-Wort

Von der Oktoberrevolution will die russische Regierung auch im Jubiläumsjahr nichts wissen. Die russische Gedenkpolitik soll stattdessen eine staatliche Leitkultur konservativ-patriotischer Prägung durchsetzen.

Altlasten können auch nach 100 Jahren noch Kopfzerbrechen bereiten, insbesondere wenn sie nicht materieller Natur sind. Doch im Jubiläumsjahr lässt sich ein weltbewegendes historisches Ereignis wie die Oktoberrevolution auch in Russland nicht ganz ignorieren. Tatsächlich finden zuhauf Veranstaltungen statt, die sich mit dem Ablauf und den Auswirkungen der »großen russischen Revolution« auseinandersetzen und die auf eine große Resonanz treffen. Zugleich fällt die Zurückhaltung der politischen Führung in den vergangenen Monaten auf, die die von Staats wegen zulässige Interpretation anderen überlässt, statt sich richtungsweisend zu äußern. Das beflügelt die Neugier, denn wo sich alle Macht im Kreml konzentriert, der in praktisch allen wichtigen Fragen klare Vorgaben formuliert, scheint es nicht unwesentlich, welche Sichtweise Wladimir Putin vertritt. Schließlich wird ihm gern eine positive Bezugnahme auf das Erbe der Bolschewiki nachgesagt.

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Die Messerattacke

Tatjana Felgenhauer hatte bislang Glück. Den Radiojournalismus machte sie bereits mit 20 Jahren zu ihrer Lebensaufgabe. Im Jahr 2005 durfte sie erstmals im Radiosender Echo Moskwy, den Gazprom-Media mit einem Anteil von zwei Dritteln kontrolliert, als Korrespondentin auftreten. Später übernahm sie die Moderation eigener Sendungen und führte Interviews mit zahlreichen Persönlichkeiten, darunter Michail Gorbatschow. Längst hat sie die Stelle als stellvertretende Chefredakteurin inne. Aleksej Wenediktow, der langjährige Chefredakteur des als oppositionell geltenden Senders, war einst einer ihrer Lehrer in der Schule und hat Tatjanas Talente schnell erkannt. Ihre Markenzeichen als Moderatorin sind eine angenehme Stimmlage und eine freundliche, ihren Gesprächspartnern wohlgesinnte Atmosphäre.

Am 23. Oktober setzte Boris Griz Tatjana Felgenhauers Glückssträhne ein abruptes Ende. Читать далее

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Hauptsache, die Juden waren’s

Schon seit 1917 gibt es die Mär vom »jüdischen Bolschewismus« – mit der Realität hat sie wenig zu tun

Vor mittlerweile einem ganzen Jahrhundert nahm mit der Oktoberrevolution ein Experiment seinen Anfang, welches das 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat. Genauso alt ist die Mär vom »jüdischen Bolschewismus«, die in immer neuer Auflage Eingang in altbekannte Verschwörungstheorien hält. Russische Revolution und Juden verschmelzen darin zu einem Synonym, ganz als ob es nie eine Geschichtsforschung gegeben hätte, die ein differenziertes Bild von der Rolle der Juden in den revolutionären Bewegungen zeichnet und mit weit verbreiteten diffamierenden Klischees aufräumt. Читать далее

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Repression gegen LGBT

Die aserbaidschanischen Behörden haben Dutzende LGBT-Personen festgenommen, zum Teil misshandelt und zu Verwaltungshaft ver­urteilt. Als Vorwand dienten ihnen angebliche Bürgerbeschwerden.

Es ist noch nicht lange her, dass die außerordentlich gewaltsame Verfolgung Homosexueller in Tschetschenien für Schlagzeilen sorgte. Nun ist der Südkaukasus an der Reihe, genauer gesagt Aserbaidschan. Mitte September begann die Polizei in der Hauptstadt Baku Razzien gegen Schwule, Bisexuelle und Transgender. Zunächst suchten die Uniformierten stadtbekannte Treffpunkte der Schwulenszene auf, durchstreiften Nachtclubs, holten Einzelne gezielt aus ihren Wohnungen und griffen Leute bei systematischen Ausweiskontrollen auf der Straße auf. Innerhalb weniger Stunden erfolgten mehrere Dutzend Festnahmen. Ins­gesamt gehen Menschenrechtsgruppen von 150 bis 200 Fällen aus, wobei nach offiziellen Angaben 83 Personen zu Verwaltungshaft zwischen zehn und 30 Tagen verurteilt wurden – im Schnellverfahren und ohne Beisein von Anwälten. Andere kamen mit Verwarnungen oder Geldstrafen davon. Читать далее

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Christlicher Jihad

Ein Film über eine Liebesbeziehung des letzten russischen Zaren sorgt in Russland für gewaltsame Proteste radikalisierter Christen. Die orthodoxe Kirche hält sich mit Kritik an diesen zurück.

Ein Techtelmechtel zwischen einem künftigen Monarchen und einer Tänzerin gehört eigentlich in die Klatschspalte. Handelt es sich um eine Verfilmung der Liebschaft, schafft sie es auch einmal auf die Kulturseiten. Am Film über die Beziehung zwischen Nikolai II., dem letzten russischen Zaren, und der Ballerina Matilda Kschessinskaja entzündet sich in Russland derzeit jedoch ein politischer Konflikt. Der russische Regisseur Aleksej Utschitel hat sich mit seinem jüngsten Werk, das unter dem Titel »Mathilde« auch in deutsche Kinos kommt, offenbar an einem Heiligtum vergriffen und damit in Russland eine Debatte angestoßen, die Anhänger säkularen Denkens mit den Auswüchsen eines reaktionären religiösen Wertesystems konfrontiert. Читать далее

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Fabriken für hörige Bürger

In Belarus steigt der Druck auf regierungskritische Studierende. Einige fordern EU-Institutionen auf, ihre Kooperation mit belarussischen Universitäten zu überdenken.

Die Zeiten sind vorbei, als Artikel über den im westlichen Europa gern ignorierten Landstrich zwischen Polen und Russland im ersten Absatz mit dem Urteil »letzte Diktatur Europas« den Ton vorgaben. Im Februar 2016 hob die Europäische Union ihre Sanktionen gegen Belarus auf. Das ermöglicht unter anderem mehr internationale Kooperationen und die Vergabe von EU-Fördermitteln. Die Geberstaaten können nun mit gutem Gewissen partnerschaftliche Kontakte mit staatlichen Stellen pflegen, während sich NGOs in Belarus mit zahlreichen Hürden und Einschränkungen konfrontiert sehen.

Seit 1994 ist Alexander Lukaschenko in Belarus Präsident. Viele Zugeständnisse musste er an die EU zur Besserung der Beziehungen nicht machen. Immerhin ließ er etliche politische Gefangene frei, die Todesstrafe gilt in Belarus hingegen weiterhin und wurde auch in diesem Jahr noch vollzogen. Zwar sorgt die Nichteinhaltung grundlegender Menschenrechte für Differenzen mit der EU; da sich die Vergehen im Vergleich zu früher aber in Grenzen halten, wird schon mal ein Auge zugedrückt.
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Erwachen im russischen Sommer

Der regierungskritische russische Regisseur Kirill Serebrennikow hat Probleme mit der Justiz.

»Ein Sommernachtstraum« von William Shakespeare ist eigentlich eine Komödie. Findet die Inszenierung in der russischen Hauptstadt statt und noch dazu auf Staatskosten, kann sie jedoch zum Albtraum für den Regisseur geraten. Am 23. August verhängte ein Moskauer Gericht Hausarrest inklusive Fußfessel über den international erfolgreichen Theater- und Kinoregisseur Kirill Serebrennikow – vorerst bis zum 19. Oktober. Er soll fast eine Million Euro staatlicher Kulturmittel veruntreut haben, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Bislang galt er lediglich als Zeuge in einem Verfahren, das ihm bereits im Mai eine Hausdurchsuchung eingebracht hatte. Nun drohen ihm zehn Jahre Haft. Sein Anwalt hat Rechtsmittel gegen die Entscheidung angekündigt. Читать далее

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Das Ende der Annäherungsversuche

Der US-amerikanische Präsident Donald Trump hat widerstrebend ein Sanktionsgesetz unterzeichnet, das unter anderem Russland betrifft. Dort gibt man sich gelassen.

Verhängt der sogenannte Westen Wirtschaftssanktionen gegen Russland, findet sich immer jemand, der den machtpolitischen Ränkespielen etwas Gutes abgewinnt. In diesem Fall tat sich Igor Setschin hervor, der Vorstandsvorsitzende des mehrheitlich staatlichen russischen Ölkonzerns Rosneft. Er verkündete zuversichtlich, größere Verluste in seinem Einflussbereich abwenden zu können. Der Nachrichtenagentur Interfax gegenüber sprach er sogar von positiven Auswirkungen: »Die negativen zeigen sich bereits bei den amerikanischen Partnern. Und bald erfahren sie, welche positiven es gibt.« In vier Wochen soll es so weit sein. Читать далее

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Tikkun Olam an der Newa

Im Gemeindezentrum in St. Petersburg lernen nichtjüdische Kinder Russisch

Willst du bis zur Rente Tom Sawyer lesen?!« So streng und energisch die Stimme auch klingt, liegt in ihr doch echte Anteilnahme. Sie gehört einer schlanken, charismatischen Frau mit langem blonden Haar. Neben ihr in einem der Räume des jüdischen Gemeindezentrums in St. Petersburg sitzt ein Erst- oder Zweitklässler, der nicht so recht weiß, wie er auf die drängende Frage reagieren soll. Russisch ist nicht seine Muttersprache, und ein ganzes Buch zu lesen, hat von ihm bisher noch niemand verlangt.
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Wer sich selbst am nächsten steht, findet rechte Freunde

Das von Wunschdenken getragene Deutschlandbild in Russland war lange Zeit überaus positiv geprägt. Damit ist es vorbei. Unter der derzeitigen Regierung scheint Westeuropa kein geistesverwandter und verlässlicher Partner mehr für Russland zu sein. Während russische Eliten ihre Kooperation mit der westeuropäischen extremen Rechten ausbauen, betreiben russische Neonazis den Aufbau neuer Strukturen.

Seit Herbst 2015 kommt kaum ein in Russland geführtes Gespräch über die Zustände in Deutschland am Thema Flüchtlinge vorbei. Während russische Medien nur in Ausnahmefällen von Gewalttaten gegenüber Flüchtlingen in Deutschland berichten, schüren sie umso regelmäßiger weit verbreitete Ressentiments gegenüber vorzüglich muslimischen Männern als Gefahrenquelle. Bedroht seien demnach nicht nur Recht und Ordnung, sondern die westliche Zivilisation als Ganzes. Es herrscht in der russischen Bevölkerung sicherlich kein Konsens, doch Verständnis für die als viel zu liberal aufgefasste deutsche Asylpolitik, deren restriktive Seite meist völlig unter den Tisch fällt, äußert nur eine kleine Minderheit.

Diese Einstellung demonstriert anschaulich, welche ideelle Kluft sich mittlerweile auftut und den imaginierten Westen in den Augen vieler russischer Bürger_innen zunehmend fremd erscheinen lässt. Europa diente lange Zeit als Projektionsfläche für eigene Sehnsüchte nach einem krisenfesten, bescheidenen Wohlstand, von dem sich allein aus Kostengründen jedoch nur eine kleine Minderheit der russischen Bevölkerung einen realistischen Eindruck vor Ort verschaffen konnte. Von Wunschdenken getragen war insbesondere das Deutschlandbild lange Zeit überaus positiv geprägt. Damit ist es vorbei. Читать далее

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