Am 27. November wird in Tschetschenien gewählt
Ende 2002 hat sich der Kreml die Normalisierung der Verhältnisse in Tschetschenien — der stark vom Krieg geprägten und zu Russland gehörigen Kaukasusrepublik — auf die Fahnen geschrieben. Seitdem wurde dort ein Verfassungsreferendum abgehalten und zwei Präsidenten gewählt. Am 27. November finden nun erstmals seit fast neun Jahren wieder Parlamentswahlen statt. Seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion 1991 hat Tschetschenien vier Parlamente gewählt — davon zwei prorussische und zwei separatistische — deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie allesamt wieder aufgelöst wurden. Das fünfte tschetschenische Parlament soll nun formal den Prozess der Machtübergabe von Moskau an die lokalen staatlichen Institutionen beenden und diese in vollem Umfang legitimieren.
Die neue Verfassung sieht ein Zweikammersystem vor. Die Unterkammer, oder auch Volksversammlung, bildet sich aus 40 Abgeordneten, wobei die eine Hälfte über Parteilisten, die andere über Direktmandate gewählt wird. Die Oberkammer, der sogenannte Republikrat setzt sich entsprechend der Verwaltungsgebiete zusammen, insgesamt 21. Demnach sind im Rat 21 Sitze zu vergeben. Allerdings werden drei der Bergregionen im Süden vorerst nicht im Rat vertreten sein. Die Unterkammer verabschiedet Gesetze, die Oberkammer bestätigt sie. Das Schema ist wohlbekannt.
Laut Angaben aus dem WählerInnenverzeichnis vom 1. Juli 2005 sind in Tschetschenien insgesamt 596.961 Personen wahlberechtigt. Zur Wahl stehen acht Parteien: Die Partei des russischen Präsidenten Wladimir Putin «Einiges Russland», die Kommunistische Partei Russlands (KPRF), die rechtspopulistische Partei von Wladimir Zhirinovski LDPR, die wirtschaftsliberalen Parteien Jabloko und die «Union der rechten Kräfte» (SPS), die Partei «Volkswille», «Rodina» (Heimat) und die «Eurasische Union». Nicht alle der genannten Parteien führen indes einen realen Wahlkampf oder verfügen geschweige denn über eine relevante Basis, in jedem Fall aber lohnt sich ein genauer Blick auf die bedeutenderen Akteure.
Außer Konkurrenz tritt die Putinpartei «Einiges Russland» an, sie rechnet mit nicht weniger als 80% der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von bis zu 90%. Nirgendwo in Russland agiert diese Partei so erfolgreich wie in Tschetschenien. 29.000 Mitglieder und Filialen in allen Ortschaften sind das Ergebnis einer gezielten, allerdings kostenträchtigen Kampagne. Besonders aktive Mitglieder erhalten für ihr Engagement eine Entlohnung in bar oder in Form von diversen Dienstleistungen. Die Partei regelt gelegentlich auch Probleme mit missliebigen StaatsdienerInnen. Die größte Versuchung für den Parteieintritt besteht jedoch allein im Besitz des Parteibuchs, welches das Passieren der zahlreichen leidigen russischen Straßenposten ohne Bakschisch und physische Übergriffe ermöglicht. Dabei gilt das «Einige Russland» bei weitem nicht als Synonym für den Kreml, sondern vielmehr wird die Partei vor Ort mit dem Jamadajew-Clan assoziiert. Einer der Jamadajew-Brüder, Ruslan, ist Abgeordneter der Russischen Duma, der andere, Sulim, Chef des für brutale Übergriffe und Säuberungsaktionen berüchtigten Batallions «Wostok» (Osten). Isa, der dritte im Bunde, hat seine Kandidatur zu den Wahlen angekündigt. Die besten Listenplätze werden von hochrangigen Staatsträgern besetzt. Es existiert sogar ein Parteiprogramm mit allerlei Allgemeinplätzen von ökologischen und sozialen Fragen bis hin zu wirtschaftlichen Belangen.
Sowohl Jabloko als auch die SPS stehen mit jeweils etwa 1.000 Mitgliedern wesentlich bescheidener da. Jede Partei rechnet mit 6-7% der Stimmen. Einer der Parteiführer der SPS, Boris Nadezhdin, sagte hingegen unlängst auf einer öffentlichen Veranstaltung in Moskau, ihm seien «8,2 Prozent zugesagt worden». Inhaltlich will sich die SPS gegen Korruption und das in der Republik alles bestimmende Clanwesen einsetzen und bewegt sich damit in ihrer Rhetorik genau so weit von der Wirklichkeit entfernt, wie alle anderen Kandidaten. Faktisch lässt sich die tschetschenische Filiale als Zusammenschluss diverser Unternehmer und Geschäftsleute unter dem schützenden Dach des Industrie- und Energieministeriums bezeichnen, welches die Parteizentrale in Grozny beherbergt. Der Sohn und der Neffe des Ministers kümmern sich um die Parteibelange, während der ehemalige Verteidigungsminister der Regierung Itschkerijas (des «freien und unabhängigen» Tschetschenien, also nicht des an Moskau orientierten) Magomed Hambijew den Rückhalt in den Bergregionen des Südens sichern soll. Ob der bekannte Separatist tatsächlich seine politische Haltung geändert hat, ist Auslegungssache. Seine Entscheidung für eine Karriere als Parlamentsabgeordneter der SPS fiel jedenfalls erst nach der jüngsten Entführung einiger Dutzend vornehmlich weiblicher Familienangehöriger durch die halboffiziellen Truppen des ersten Vizepremiers und gemeinhin als Schlächter bekannten Ramzan Kadyrow.
Die «Eurasische Union» — nicht zu verwechseln mit der Partei des Moskauer Geopolitikers Aleksandr Dugin — besteht hauptsächlich aus Leuten Kadyrows, was deren Standing unweigerlich verbessert. Dies im Unterschied zur «Republikanischen Partei Russlands», die als ein Zusammenschluss diverser liberaler Parteien und Bürgerrechtsorganisationen noch am ehesten die Interessen der zahlreichen, zwangsweise nach Tschetschenien zurückgekehrten Flüchtlinge hätte vertreten können. Ihre Weigerung, Figuren aus dem tschetschenischen Establishment in der Wahlliste zu platzieren, führte zur einem «Njet» durch die Wahlkommission aus «formalen» Gründen. Dabei sind sich ohnehin alle Parteien einig, dass der Grossteil der Abgeordnetenplätze bereits unter dem Jamadajew-Clan, Kadyrow und weiteren einflussreichen Regierungsmitgliedern aufgeteilt ist.
Soziale Belange und Fragen zur verheerenden Situation auf dem Arbeitsmarkt — wenn man ihn denn so nennen will bei einer Arbeitslosigkeit, die selbst Präsident Alu Alchanow bei 60 Prozent einstuft, wobei etwa 97 Prozent der offiziellen Arbeitsplätze im Ölsektor verankert sind — tauchen in der Wahlrhetorik fast aller Parteien auf. Doch zum nach wie vor aktuellsten Thema, der fortdauernden Willkür tschetschenischer und russischer Streitkräfte und anderer Sondereinheiten, nimmt niemand Stellung. Das Thema ist zu heikel und kann buchstäblich den Kopf kosten. Russische Menschenrechtsorganisationen teilten unlängst der Presse mit, dass allein im Monat Oktober 116 Personen entführt wurden. Dem gegenüber stehen die offiziellen Zahlen der Regierung in Grozny, die lediglich von 16 Personen spricht und insgesamt eine sinkende Tendenz von Fällen plötzlichen «Verschwindens» von Zivilpersonen erkennen will. Dass indes bei der Miliz und der Staatsanwalt weniger Klagen eingehen, mag in erster Linie damit zusammenhängen, dass mit einer realen Unterstützung der Staatsorgane ohnehin niemand rechnet. Zudem könnte eine Klage womöglich den Besuch maskierter Sondereinheiten nach sich ziehen. Von auch nur halbwegs freien Wahlen zu sprechen, wäre demnach überaus zynisch. Der Krieg gegen die Bevölkerung geht weiter, nur darf er nicht als solcher benannt werden.
Trotz aller Bemühungen aus Moskau, dauern die Kampfhandlungen in Tschetschenien nach wie vor an. Um Putins angekratztes Ansehen in vollem Umfang wieder herzustellen, wählte der Kreml seine altbekannte Taktik, die auch in den umliegenden zu Russland gehörigen Kaukasusrepubliken Inguschetien oder Nordossetien Anwendung findet. Unter Missachtung der lokalen realen Machtverhältnisse wird ein Moskautreuer Präsident etabliert, dessen Clan über nicht allzu viel Einfluss verfügt. Damit ist dieser steuerbar, da er die Unterstützung aus Moskau benötigt. Diese Verankerungspolitik des Kreml greift jedoch im vom Krieg gezeichneten Tschetschenien — der nun bereits seit über 10 Jahren andauert — immer weniger. Zu einen gibt es keine Garantien, dass getroffene Absprachen zwischen Moskau und Grosny auch wirklich eingehalten werden. Zum anderen fehlen in der Kaukasusrepublik ausgeprägte zivilgesellschaftliche Strukturen, reale Parteien und sonstige Interessensverbände, die ein Korrektiv bilden könnten. Dies führt zu einer Formierung einer innerrepublikanischen Elite der Kadyrows, Jamadajews, Alchanows und weiteren, deren politische Linie in vielerlei Hinsicht unabhängig vom Moskauer Zentrum bestimmt wird. Der Politologe Sergej Markedonow nennt dieses Phänomen systemorientierten Separatismus. Anders als der mit bewaffneten Mitteln geführte Kampf für eine staatliche Unabhängigkeit zeichnet dieser sich durch den Verbleib innerhalb der Russischen Föderation aus, allerdings jenseits der russischen Rechtsnormen und Rechtssprechung. Der Kreml ist den selbstdeklarierten prorussischen Kräften gegenüber durchaus zu spürbaren Zugeständnissen bereit. In einem zwar bislang noch nicht unterzeichneten Staatsvertrag zwischen Moskau und Grozny sind weitreichende Vollmachten für die tschetschenische Teilrepublik vorgesehen, wie sie nicht einmal die weitgehend autonomen Föderationsrepubliken Tatarstan und Baschkortostan vorweisen können.
Die Stärkung der neuen Eliten hinterlässt auch bei den kämpfenden Separatisten ihre Spuren, deren Anzahl im Moment auf zwischen 800 und 1.000 geschätzt wird. Zusätzlich geschwächt durch den Tod des ehemaligen Separatistenführers Aslan Maschadow im März diesen Jahres erfreut sich die Idee eines unabhängigen «Itschkerias» immer weniger Beliebtheit. Spätestens seit der Geiselnahme in einer Schule im nordossetischen Beslan im September 2004 haben sich terroristische Mittel als verlängerter Hebel des politischen Kampfs in Tschetschenien weitestgehend diskreditiert, stattdessen greift nun ein verstärkt islamistisch begründeter Terrorismus immer weiter auf den gesamten Nordkaukasus über.
Jüngstes Beispiel dafür ist der Überfall von ca. 150 islamistischen Kämpfern auf staatliche Einrichtungen in Naltschik, der Hauptstadt Kabardino-Balkariens am 13. Oktober. Verantwortlich zeichnete sich die in Tschetschenien basierende «Kaukasische Front» mit dem Warlord Schamil Bassajew an der Spitze. Die Beteiligten stammten allerdings aus der lokalen islamistischen Gruppierung «Jarmuk». Dabei galt Kabardino-Balkarien bislang als eher friedliche Region. Doch auch hier macht sich Korruption breit und es brodeln lokale zwischenethnische Konflikte. Die lokalen Eliten und die russische Zentralmacht bleiben angesichts der extrem angespannte soziale Situation tatenlos. Und nicht zuletzt wird hier, wie auch in Tschetschenien, das Andenken an die Deportationen unter Stalin wach und sorgt für eine offen antirussische Stimmung.
ute weinmann
ak 500