Schlechte Zeiten für GipfelstürmerInnen. Repressionen gegen Anti-G8-Proteste in St. Petersburg

Für die russische Elite ist die Mitgliedschaft im Club der „Großen 8“ in erster Linie eine Prestigefrage. Nur wenige ihrer Angehörigen bringen tatsächliches Interesse für die dort geführten Debatten auf — Hauptsache dabei sein. Eigentlich wäre die Bezeichnung „7 plus 1“ weitaus passender, denn auf den Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der Koalition der Mächtigen nimmt die Elite bislang wenig Einfluss. Russland gehört bekanntermaßen nicht zu den acht führenden Industrienationen, allein dessen Funktion als unverzichtbarer Energielieferant und geostrategischer Partner lassen eine Ausnahme von der Regel gerechtfertigt erscheinen. Aufgrund der teils harschen Kritik aus den USA und Großbritannien am undemokratischen Führungsstil des Kreml verzögert sich jedoch die angekündigte Vollmitgliedschaft, Russland ist nach wie vor auf der Ebene der Finanzminister den sieben führenden Industrienationen formal nicht gleichgestellt.

Der russische Präsident Wladimir Putin will den erstmaligen Vorsitz seines Landes im Jahr 2006 nutzen, um das angeschlagene Image des Rohstoffgiganten aufzupolieren. Seinen Anspruch auf Einbindung in alle Gremien der G8 bekräftigte er Mitte Februar auf dem ersten Koordinierungstreffen der Finanzminister in Moskau zur Vorbereitung des diesjährigen Gipfels. Ganz zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Kremlchefs wird das vom 15. bis 17. Juli geplante Gipfeltreffen mit dem Hauptthema Energiesicherheit in dessen geliebter Heimtatstadt St. Petersburg stattfinden. So gesehen sollte eigentlich nichts mehr schief gehen.

Doch ziehen internationale politische Events erfahrungsgemäß eine schwer kontrollierbare Masse ungeladener Gäste aus der ganzen Welt an. In Russland selbst hat die ausländischen GlobalisierungsgegnerInnen zwar noch nie jemand zu Gesicht bekommen, aber seit dem russische Massenmedien im Verlauf der Proteste in Genua im Jahr 2001 erstmals von den hier sogenannten „Antiglobalisten“ Kenntnis genommen hat, hält sich hartnäckig das Bild einer tollwütigen Horde, die weltweit jeden Veranstaltungsort in einen Trümmerhaufen verwandelt. Überhaupt, so die weitläufige Meinung vieler RussInnen, geht von jeglicher vermeintlich fremdbestimmten, im Klartext aus dem Ausland gelenkten, Initiative eine potenzielle Bedrohung aus. Wohingegen den heimischen „Antiglobalisten“ aus dem nationalpatriotischen Spektrum mit wesentlich mehr Verständnis begegnet wird, da sie sich als eines ihrer Themenfelder das Baltikum und die Verteidigung der Rechte der russischsprachigen Bevölkerung zu eigen gemacht haben.

Damit sich das vorherrschende Verständnis von Globalisierungskritik auch in diesem für den Kreml so bedeutendem Jahr keiner Metamorphose unterzieht, haben die für ihren Erfindungsreichtum bekannten zuständigen Macher in der Präsidialadministration Vorsorge getroffen. In gängiger Manier erstellen sie Surrogate, die bei Bedarf flexibel eingesetzt werden können. Als die Nachfrage nach „echten“ AntifaschistInnen an Aktualität gewann, wurde die „Demokratisch-antifaschistische Jugendbewegung „Naschi“ („Unsere“) ins Leben gerufen, deren Antifaschismus sich etwa darin äußert, dass sie eine Leibgarde aus rechten Fußballhooligans unterhält. Die antiglobalistischen Verkleidungskünstler wiederum treten wahlweise unter dem Label „VAL“ („Allrussische Alterglobalistische Liga“) oder als Moskauer Ableger der „Naschi“ unter dem Namen „Mestnyje“ („Die von hier“) in Erscheinung. Der Kreml ist bemüht ein Image zu schaffen, wonach in der ganzen Welt GlobalisierungsgegnerInnen gegen Regierungen, darunter ihre eigenen, protestieren, allein in Russland üben diese ihrem Präsidenten Wladimir Putin bedingungslose Treue. Wer gegen den Präsidenten protestiert ist per Definition ein Spinner, ein Außenseiter, ein Chaot, kurzum alles, nur kein „Antiglobalist“.

Die globalisierungskritische Linke in Russland pflegt ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Bezeichnung, ein Teil nennt sich „alterglobalistisch“ in Anlehnung an das englische Äquivalent oder das französische „altermondialiste“, andere wiederum nehmen den durch die Medien aufgedrückten Stempel an oder scheren sich wenig um derartige Spitzfindigkeiten. Vorrang hat die politische Verortung innerhalb der russischen Linken. Die Anbindung an die weltweite globalisierungskritische Bewegung vollzieht sich hauptsächlich durch die Teilnahme an den Europäischen Sozialforen durch zahlenmäßig geringe Delegationen. Im April vergangenen Jahres fand in Moskau schließlich das erste russische Sozialforum statt. Die etwa 1500 TeilnehmerInnen repräsentierten praktisch das gesamte linke Spektrum, einschließlich einzelner Mitglieder der Kommunistischen Partei Russlands (KPRF) und einer Reihe anarchistischer Gruppen. Moskau und Umgebung waren mit weit weniger als der Hälfte der Anwesenden vertreten und damit erfüllte das Forum seine wohl wichtigste Funktion, nämlich landesweite Verbindungen unter den verschiedensten Organisationen und Gruppen (wieder-) herzustellen. Diverse Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, lokale soziale, ökologische und studentische Initiativen und viele weitere Gruppen konnten wertvolle Kontakte knüpfen und Netzwerke bilden. Infolge entstand beispielsweise das Bündnis der Koordinationsräte (SKS), welches in einigen Regionen, beispielsweise in Perm oder Izhevsk, über eine relativ breite Basis verfügt und landesweit Proteste gegen die vor mittlerweile einem Jahr in Kraft getretene Kommunalreform organisierte.

Durch die antisozialen Reformen im Verlauf von Putins zweiter Amtszeit wurden bislang geltende soziale Garantien außer Kraft gesetzt, die bislang den freien Fall einkommensschwacher Bevölkerungsschichten abfedern konnten. Das Recht auf bezahlbaren Wohnraum nahm darin eine zentrale Position ein, gehört nun jedoch der Vergangenheit an. Anfang des Jahres kamen Subventionsstreichungen bei den Wohnnebenkosten hinzu. Nicht selten übersteigen diese das eigene Einkommen. Die regionale Differenzierung ist enorm – zwischen 15 und 100 Prozent der veranschlagten Kosten müssen nun aus eigener Tasche bezahlt werden. Nur wenige Gouverneure haben im Kreml die weitere Subventionierung durch den Staatshaushalt durchgesetzt. Einzelne Städte aus den am stärksten von der Preissteigerung betroffenen Gebiete melden seither einen Rückgang bei den Verbraucherzahlen um bis zu 50 Prozent. Am ersten Märzwochenende verschafften in ganz Russland etwa 800 000 Menschen ihrem Unmut Luft.

Das in der Gesellschaft vorhandene Protestpotenzial – bestehend vorwiegend aus RentnerInnen, Kriegsveteranen, dem Umfeld der KPRF und in der jüngeren Generation aus diversen kommunistischen und stalinistischen Organisationen und nicht zu vergessen der Nationalbolschewistische Partei (NBP) — lässt sich am ehesten mit sozialen Forderungen aktivieren. Diese wiederum sind eng an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten geknüpft. Der G8-Gipfel in St. Petersburg kommt der an sich geschwächten Linken eher ungelegen und die Diskussionen um die Mobilisierung zu eventuellen Gegenveranstaltungen waren nur mit Mühe in Gang zu bringen. Einerseits gehe es nicht an, so die Argumentation, bei einem solchen Anlass die Hände in den Schoß zu legen, andererseits stellen sich viele russische Linke die Frage nach der Vermittelbarkeit einer antikapitalistischen Alternative ausgerechnet im Rahmen der G8. Zwar dominiert bei einem großen Teil der Bevölkerung eine eher diffuse Abneigung gegen Globalisierung schlechthin, doch geht diese nicht selten einher mit offener Fremdenfeindlichkeit und dem Wunsch, Russland möge in seine alte Rolle als international anerkannte Großmacht schlüpfen. Kaum jemand versteht, was das spezifisch Negative an einem Treffen der mächtigsten Regierungschefs der Erde sein soll. Denn dass gesellschaftlich relevante Entscheidungen ohne demokratisch abgestimmte Prozeduren gefällt werden, ist alles andere als ungewöhnlich in einer Gesellschaft, in der es an sich kaum Illusionen über die Mitbestimmung des Volkes über seine eigenen Bedürfnisse gibt.

Der Zusammenschluss rund um das russische Sozialforum hat sich trotz bescheidener Ressourcen dazu durchgerungen, nach Möglichkeit parallel oder einige Tage vor dem Petersburger Gipfel ein zweites Forum zu organisieren. Die thematischen Schwerpunkte sollen bei sozialen Fragen, Bildung, Energie, Ökologie und der Einhaltung von Menschenrechten liegen. Ort und Finanzierung stehen allerdings bislang völlig offen. Mit der von Gesetzes wegen erforderlichen Genehmigung für eine Protestdemonstration rechnet von vornherein niemand. Zeitgleich wird es mit einem geplanten internationalen Forum für Nichtregierungsorganisationen unter der Schirmherrschaft von Ella Pamfilova, Vorsitzende des präsidialen «Rats zur Mitwirkung an der Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte», überdies noch mindestens eine Konkurrenzveranstaltung geben.

Die selbst bei großzügiger Auslegung immer noch kleine anarchistische Szene will mit all den genannten Strukturen nichts zu tun haben und mobilisiert mit einem eigenen Netzwerk gegen den Gipfel in Petersburg. SPB8 ist ein Zusammenschluss etlicher Gruppen und Einzelpersonen, die bislang jedoch selten über einen längeren Zeitraum miteinander kooperiert haben. Für eine Blockade des Palastes am Stadtrand von Petersburg, in dem sich die Regierungschefs treffen sollen, wird die Anzahl entschlossener GipfelstürmerInnen wohl kaum ausreichen, aber ganz ohne Protest sollen die Mächtigen der Welt in Petersburg nicht tagen dürfen. Aber auch hier stehen die Vorbereitungen noch am Anfang. Die Stärke und gleichzeitig Schwäche der Szene besteht in ihrer Fähigkeit zur Spontaneität und unerwarteten Aktion, für gute Planung steht sie jedenfalls nicht. Wie bei der Restlinken sorgt auch hier der G8 nicht gerade für Enthusiasmus. Das Interesse an inhaltlicher Arbeit zum Thema hält sich ohnehin in Grenzen.

Einen zweifellos wichtigen Impuls für die angesichts schwieriger politischer Rahmenbedingungen und in jeder Hinsicht knappen Ressourcen tendenziell eher pessimistisch gestimmten AktivistInnen aus Russland, Belarus und der Ukraine gab ein erstes internationales Vorbereitungstreffen in Kiew im Februar. Visafreiheit für EU-BürgerInnen und die relative Nähe aus Russland betrachtet machten es möglich. Zwei Tage Diskussion reichten zwar lediglich zu einer ersten Annäherung zwischen Aktiven aus verschiedenen Ländern und Städten, andererseits war zumindest gegen Ende hin der Schritt vollzogen, erste Entscheidungen fällen zu können. So soll beispielsweise am Tag vor Beginn des Gipfeltreffens ein globaler Aktionstag gegen den G8 stattfinden.

Indes laufen die Vorbereitungen für den Gipfel auf Hochtouren. Die St. Petersburger Gouverneurin Valentina Matvijenko erklärte unlängst auf einer Pressekonferenz in Washington, die Behörden der Stadt hätten reichlich Erfahrung im Bereich von Veranstaltungen mit ranghohen Gästen, so auch im Rahmen der 300-Jahrfeier vor drei Jahren. Sie weiß genau wovon sie spricht. Damals wurden missliebige stadtbekannte politische Akteure durch Vorbeugehaft unschädlich gemacht, das Zentrum und etliche Straßenzüge komplett abgeriegelt und einen Monat lang für AusländerInnen keine Visa ausgestellt. Die Polizeisondereinheit OMON, deren Angehörige praktisch komplett Kampferfahrungen bei regelmäßigen Einsätzen in Tschetschenien gesammelt haben, prügelt in der Vergangenheit häufiger auf DemonstrantInnen ein und verhinderte bislang zwei kleinere gegen den G8 gerichtete Protestaktionen in Moskau. Das letzte Koordinierungstreffen des SKS Ende Januar musste nach plumpen Einschüchterungsmanövern der Behörden spontan verlegt werden. Und in Petersburg ließ die Miliz erste Drohungen gegen die anarchistische Szene verlautbaren, falls diese sich erdreisten sollte gegen den G8 zu protestieren. Zwar ist diese Tendenz nicht neu, verfehlt aber auf Dauer nicht ihre Wirkung. Die „wilden Horden“ werden vermutlich in diesem Jahr zu Hause bleiben und auf eine Reise ins Ostseebad Heiligendamm für den G8 im Jahr 2007 sparen. Aber vielleicht verirrt sich der eine oder die andere ja doch noch vorher nach St. Petersburg.

ute weinmann

ak 504

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