Die geschminkte Macht

Die Proteste in Minsk konnten den belarussischen Präsidenten Lukaschenko nicht gefährden. Doch die wirtschaftlichen Probleme wachsen, und mit ihnen die soziale Unzufriedenheit.

Böse Zungen behaupten, sie hätten den am 19. März in einem fragwürdigen Wahlverfahren in seinem Amt als Präsident der Republik Belarus bestätigten Aleksandr Lukaschenko noch nie mit so viel Schminke auf dem Gesicht gesehen wie bei seinem Auftritt nach dem erwarteten Sieg. Gewonnen hätte er zwar auch ohne Manipulationen spätestens im zweiten Wahlgang, aber der erste sollte der einzige bleiben und mit einem würdigen Ergebnis enden. So wurden Lukaschenko 82,6 Prozent zugesprochen. Und selbst­verständlich sollte der Festtag nicht durch Proteste in der Hauptstadt und ein Zeltlager nach ukrainischem Vorbild getrübt werden. Doch dann kam alles anders als geplant.

Aber nicht allein der Präsident reagierte auf die für belarussische Verhältnisse unerwartet großen Proteste überrascht. Die zerstrittene Opposition war bis zu diesen Wahlen in der Bevölkerung weitgehend diskreditiert, was zwar auch auf die jahrelange Propaganda im belarussischen Staatsfernsehen zurückzuführen ist, weitgehend jedoch auf das Konto der oppositionellen Parteien und Bewegungen selbst geht. Das führende Oppositionsbündnis stellt einen Zusammenschluss aus völlig unterschiedlichen Parteien dar: der sozialdemokratischen Gramada von Stanislaw Schuschkewitsch, dem ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Sowjets, der nationalistischen Belarussischen Nationalfront (BNF), der der Präsidentschaftskandidat der vereinigten Opposition, Aleksandr Milinkewitsch, nahe steht, der aus Russland finanzierten wirtschaftsliberalen Vereinigten Bürgerpartei, der mit der Gewerkschaft sympathisierenden Partei der Arbeit und nicht zuletzt der Partei der Kommunisten von Belarus (PKB). Deren jeweilige Basis war von Anfang an unwillig, eine längerfristige Kooperation einzugehen. Das Wahlbündnis war eine taktische Zusammenarbeit der Parteiführungen ohne gemeinsame programmatische Grundlage.

Da von Beginn an offensichtlich war, dass sich Aleksandr Milinkewitsch keinerlei Aussichten auf einen Wahlsieg gegen Lukaschenko ausrechnen konnte, war seine Kampagne nicht auf eine Machtübernahme ausgerichtet. Daher blieben auch die großen Investitionen ausländischer Geldgeber in die Popularisierung seiner Person aus. Was nicht heißen soll, dass keinerlei Geld in den Wahlkampf geflossen ist, doch im Unterschied zu den neunziger Jahren oder den Verhältnissen in Russland werden zumindest keine »Aufwandsentschädigungen« für die Teilnahme an Protesten gezahlt.

Unterstützung kommt nicht allein aus dem Westen. In den Oppositionsbewegungen überschneiden sich deutsche und russische Wirtschaftsinteressen. So wird die sozialdemokratische Gra­mada von Präsidentschaftskandidat Aleksandr Kozulin, dem mittlerweile eine mehrjährige Haftstrafe droht, sowohl von den deutschen Sozialdemokraten als auch von dem Kreml nahe stehenden Geschäftskreisen finanziert. Ziel ist es, den Transit für Öl und Gas durch Belarus in Zukunft möglichst gewinnbringend zu gestalten.

Zudem ist nur ein Teil der Opposition prowestlich. Die belarussische Linke besteht aus drei Strömungen: den sowjetnostalgischen Organisationen, die wie die Kommunistische Partei Belarus Lukaschenko unterstützen oder aber, wie die PKB, offen gegen ihn ins Feld ziehen; zahlreichen sozialdemokratischen Parteien und Gruppierungen, die auf der Suche nach einer Alternative zum Realsozialismus nur noch einige Elemente linker Politik propagieren und deren Basis beispielsweise bei den nach der Unabhängigkeit von Belarus gegründeten freien Gewerkschaften zu finden ist; und schließlich den verschiedenen ökologischen und anarchistischen Initiativen.

Letztgenannte profitieren inzwischen in der Öffentlich­keit davon, dass sie sich bislang nie oder nur am Rande an den Streitigkeiten innerhalb der liberalen und rechten Opposition beteiligten. Ihre antiautoritären Überzeugungen sind populär bei jenen, die nach dem Wahlsieg Lukaschenkos protestierten. Da sie sich jedoch gleichzeitig von jeglicher Anbiederung an die EU und die USA distanzieren, wie sie ein Teil der Opposition praktiziert, existieren keinerlei Bündnisse über das eigene Spek­trum hin­aus. Anders ist das lediglich bei den Gruppierungen um das belarussische Sozialforum, dessen Fortsetzung im April oder Mai geplant ist und das als Plattform für Debatten um eine ökonomische Alternative jenseits kapitalistischer Modelle dienen soll.

Alternativen zu seiner bisherigen Politik dürfte auch Lukaschenko bald benötigen. Das belarussische Wirtschafts- und Sozialmodell, das entscheidend für die Akzeptanz seiner Herrschaft ist, garantierte über viele Jahre hinweg eine relative Stabilität auf niedrigem Niveau. Es basiert auf günstigen Einkaufspreisen für Rohstoffe aus Russland und darauf, dass die Erlöse aus der staatlichen Produktion vor allem in die Lohnzahlungen und Subventionen für Industrie und Land­wirt­schaft fließen. Im vergangenen Jahr konnte so der Konsum innerhalb des Landes gesteigert werden.

Doch der russische Konzern Gazprom hat in der vorigen Woche angekündigt, dass auch Belarus bald Preise »entsprechend dem europäischen Niveau« zahlen müsse. Und dem Staat fehlt das Kapital für die notwendige Modernisierung seiner Betriebe, deren Rentabilität mit den Jahren sinkt. Private Unternehmen, die höhere Steuern entrichten müssen, erwirtschaften lediglich etwa 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Auch unter Lukaschenko gibt es Sozialabbau, zahlreiche soziale Vergünstigungen werden gekürzt, unter anderem für Betroffene der Atomkatastrophe in Tschernobyl. Betriebe unter anderem im staatlichen Dienstleistungssektor sollen profitorientiert arbeiten. Viele Einrichtungen werden dazu angehalten, eigene Mittel zu erwirtschaften, was zur Folge hat, dass bislang kostenlose oder kostengünstige Dienstleistungen zu einem unerschwinglichen Luxus werden. Die Löhne waren lange Zeit niedrig, aber stabil. Die rechtzeitige Auszahlung von Renten und Löhnen bildet eines der zentralen Instrumente der Machterhaltung des Präsidenten, der seine Wähler vor allem unter Rentnern und Staatsdienern findet.

Doch die Lohnzahlungen erfolgen nicht mehr in allen Fällen pünktlich. Deshalb werden immer häufiger spontane Warnstreiks organisiert, wie Ende Dezember vergangenen Jahres in einem der größten Betriebe der Stadt Bobrujsk. Die Arbeiter der Frühschicht forderten die Auszahlung ihrer ausstehenden Gehälter ein. Erst nachdem die Betriebsverwaltung den nach einem Warenkorbmodell berechneten Minimallohn von umgerechnet etwa 85 Euro ausbezahlt hatte, nahm die Schicht ihre Arbeit wieder auf. In Minsk legten im November Arbeiter des Betriebes Motovelozavod kurzzeitig eine der Hauptstraßen in der Stadt lahm.

Die Hauptaufgabe der Betriebsverwaltungen besteht derzeit darin, die Auszahlung der Löhne nach Möglichkeit aufzuschieben und gleichzeitig zu verhindern, dass politische Forderungen laut werden. Dabei hilft die Regierung: Die jüngste Fas­sung des belarussischen Strafgesetzbuchs stellt Aufrufe zu politischen Streiks und die Vermittlung von Streikmethoden unter Strafe.

Die Proteste nach den Wahlen konnten Lukaschenkos Macht noch nicht gefährden. Doch das »Modell Belarus« verfällt, und die größten Schwierigkeiten stehen dem autokratisch regierenden Präsidenten noch bevor.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2006/14/17230.html

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