Schreiende russische Generäle

Der Streit um das Raketenabwehrsystem der USA geht in die nächste Runde

„Wer geboren wird schreit, wer stirbt ist still“ lautet ein russisches Sprichwort. Und wenn russische Generäle schreien, ist die ganze Welt in Aufruhr. Harsch reagierte der russische Generalstabschef Jurij Balujewskij Mitte Februar auf die Zustimmung aus Warschau hinsichtlich der US-amerikanischen Pläne zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems im Rahmen der Ballistic Missile Defence in Polen und Tschechien. „Sollen sie das (System) bei sich ruhig stationieren, aber dann brauchen sie sich anschließend nicht zu beschweren, wenn ihnen was auf den Kopf fällt.“

Im Januar äußerte sich der Befehlshaber der russischen Weltraumraketentruppen Generalleutnant Wladimir Popowkin besorgt ob der gegenwärtigen Entwicklung. „Unsere Analyse zeigt, dass die Stationierung einer Radarstation in Tschechien und Abwehrraketen in Polen eine sichtbare Bedrohung für uns darstellt“, erklärte Popowkin. Es sei äußerst zweifelhaft, dass der Flugbahnverlauf iranischer Raketen ausgerechnet auf tschechisches und polnisches Territorium ausgerichtet sei. Er begründete seine Zweifel hinsichtlich der Versprechen der USA, das System richte sich nicht gegen Russland, damit, dass die maximale technische Reichweite der X-Band Radarstation in Tschechien von 4500 km ermöglicht strategische Atomkräfte zu orten, welche im europäischen Teil Russlands und auf der Nordflotte stationiert sind. „Würden ähnliche Stationen und Objekte in der Türkei aufgebaut werden, könnte man noch in einer gewissen Weise davon sprechen, dass sie gegen iranische Raketen ausgerichtet sind“, fuhr der General fort. Mitte März kündigte Popowkin eventuelle Gegenmaßnahmen an. Es werde die Möglichkeit geprüft, Systeme zur Weltraumkontrolle in einigen russischen Auslandsvertretungen zu installieren. Damit solle der Raketenflugverlauf in den Regionen registriert werden, die vom Territorium Russlands aus nicht einsichtbar sind.

Sergej Iwanow, zu dem Zeitpunkt noch Verteidigungsminister, reagierte wesentlich gelassener. Die amerikanischen Pläne würden seiner Meinung nach in keiner Weise die Sicherheit Russlands beeinträchtigen, da die russischen Raketenkomplexe Topol-M, von denen bis zum Jahr 2015 insgesamt über 50 in Dienst gestellt werden sollen, alle bestehenden Abwehrsysteme überwinden können. Raketen vom Typ Topol-M sind nicht nur in der Lage ihren Kurs während des Fluges zu ändern, sie können in einem Ablenkungsmanöver auch einzelne Teile abwerfen, die von den Radaren des Abwehrsystems ebenfalls als Ziel erkannt werden . Zusätzlich ist im Rahmen des staatlichen Rüstungsprogramms für den Zeitraum von 2007 bis 2015 die Anschaffung von 50 Raketenträgerflugzeugen Tu-160 und Tu-95 MS geplant. Nach offiziellen Angaben von Ende 2006 befinden sich in Russland derzeit 542 einsatzbereite interkontinentale ballistische Raketen, 14 mit Nuklearraketen bestückte Unterseeboote und 78 strategische Kampfflugzeuge. Alles in allem macht das 3373 Atomsprengköpfe. Die USA verfügen über mehr als 4000 nukleare Sprengköpfe.

Bei Licht betrachtet müssten sich die russischen Generäle im Zusammenhang mit der US-amerikanischen Initiative dennoch gegenwärtig keine Gedanken über die militärische Sicherheit Russlands machen, befindet der russische Militärexperte Pawel Felgenhauer. Zumal russische Raketen im Kriegsfall ohnehin den kürzesten Weg in die USA über den Nordpol ohne Umweg über Polen anvisieren würden. Demnach müssten die USA ihr Abwehrsystem in norwegischem Gewässer oder in Kanada installieren, würde deren vorrangiges Interesse tatsächlich in der Abwehr russischer Sprengköpfe bestehen. Zumal sich die Amerikaner in der Testphase ihres neuen Systems bislang nicht mit Erfolgen schmücken konnten.

Dementsprechend selbstbewusst reagierte der Oberkommandierende der russischen Luftwaffe, General Wladimir Michailow, auf das bislang unkonkretisierten Vorhaben der amerikanischen Agentur für Raketenabwehr, den Kaukasus als möglichen Standort für eine mobile Radarstation in die Planung einzubeziehen. Selbst die Ukraine wurde genannt, diese dementierte jedoch konkrete Vorhaben ebenso wie Georgien und Aserbaidschan. Der General machte Anfang März vor Journalisten deutlich, dass die Pläne Washingtons hinsichtlich der Stationierung ihres Raketenabwehrsystems in Europa in erster Linie jene Länder beunruhigen sollten, die der militärischen Infrastruktur der USA ihr Territorium zur Verfügung stellen. Wie Iwanow setzt auch er auf moderne russische Militärtechnik. Das Abwehrraketensystem S 400 sei die angemessene Antwort auf eine mögliche Stationierung einer US-Radarstation im Kaukasus, erklärte Michailow. Bereits ab dem kommenden Sommer ist dessen Einsatz im Moskauer Umland geplant.

Ende März hieß es nach telefonischen Beratungen zwischen dem US-amerikanischen Präsidenten George Bush und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin überraschend, Russland sei bereit in Zusammenarbeit mit den USA ein gemeinsames Raketenabwehrsystem zu entwickeln und dieses auf russischem Territorium zu stationieren. Moskau sei laut Angaben eines ungenannt gebliebenen russischen Diplomaten zu diesem Schritt bereit, vorausgesetzt, Washington sehe von seinen Plänen ab, Teile des neuen Abwehrsystems nahe der russischen Grenzen zu errichten.

Die Nachrichtenagentur AFP zitierte den Diplomaten mit folgenden Worten: „Zu aller erst müssen wir definieren, welche Bedrohungen existieren. Und wenn die Bedrohung tatsächlich von Nordkorea und dem Iran ausgeht, so ist es naheliegend unser Territorium einzubeziehen. Und warum auch nicht? Für Russland ist nichts unmöglich, wenn man sich nur vernünftig gegenüber uns verhält.“

Am selben Tag wurden diese Worte allerdings von einem offiziellen Vertreter des russischen Außenministeriums dementiert. Michail Kamynin teilte der Presse mit, dass Russland der Stationierung einzelner Komponenten des Raketenabwehrsystems der USA auf seinem Gebiet keine Zustimmung erteilen wird. Darüber hinaus beteuerte er, die Mitteilungen westlicher Nachrichtenagenturen „entsprechen nicht der Wahrheit und spiegeln absolut nicht die Position Russlands in Bezug auf die Problematik der Raketenabwehr wider, die im allgemeinen bekannt ist.

Eine engere Kooperation mit den USA und der NATO bei der Entwicklung gemeinsamer Raketenabwehrsysteme findet im russischen Verteidigungsministerium durchaus Befürworter, wenngleich diese eine Minderheitenposition einnehmen. Generalmajor im Ruhestand und gleichzeitig Leiter eines der wissenschaftlichen Forschungsinstitute des russischen Verteidigungsministeriums, Wladimir Dworkin, begrüßte in einem Gespräch mit der als Beilage der „Nezawisimaja Gazeta“ erscheinenden „Militärschau“ eine solche Perspektive. „Die deutlich negative Reaktion des Kremls und die sichtbare Besorgnis der führenden europäischen Staatshäupter können womöglich positiv auf die militärisch-politische Konsolidierung Russlands, der USA und der NATO einwirken. Mit anderen Worten, es geht weniger allein um gemeinsame intensive Konsultationen in Bezug auf die Bedrohung durch Raketen oder Raketenabwehrsysteme, sondern auch um eine direkte Beteiligung Russlands an der Ausarbeitung und Stationierung von Objekten des Abwehrsystems auf dem eigenen Territorium.“ Davon könnten alle Seiten profitieren. Allerdings spricht Dworkin auch von entscheidenden bürokratischen Hürden und veralteten Ängsten, was die Offenlegung militärisch relevanter Technologien anbelangt.

Dem steht jedoch eine breite Front an Ablehnung gegenüber. Eine enge Zusammenarbeit auf dem Gebiet zwischen Russland und den USA sei schon allein deshalb prinzipiell unmöglich, weil das gesamte Atomwaffenarsenal beider Staaten gegeneinander gerichtet ist. Diese Meinung dominiert im Generalstab eindeutig. Der Befehlshaber der Strategischen Raketentruppen Nikolaj Solowzew erklärte, er sei bereit Mittel- und Kurzstreckenraketen auf die amerikanischen Objekte in Polen und Tschechien auszurichten. Vertreter des russischen militärisch-industriellen Komplexes begründen ihre ablehnende Haltung mit der Weigerung der USA, ein Abkommen über die Einhaltung von Urheberrechten zu unterschreiben.

Am 6. April stimmten die Abgeordneten der russischen Staatsduma auf einer Plenarsitzung einstimmig für die Verabschiedung einer Erklärung, in der die USA der Einmischung in innere Angelegenheiten Georgiens und der Ukraine beschuldigt werden. Auf Kritik stieß hauptsächlich die offene Befürwortung der USA eines NATO-Beitritts beider GUS-Staaten. Überdies würden die USA die Teilung Europas vorantreiben und ein erneutes Wettrüsten provozieren. Die Abgeordneten erklärten, dass die geplante Stationierung eines US-Raketenabwehrsystems in Tschechien und Polen von der „Unfähigkeit der NATO“ zeuge, „ein auf kollektiver Basis stehendes Sicherheitsniveau für alle Mitgliedstaaten zu gewährleisten“. Außerdem sei die NATO nicht fähig, die Meinungen in den jeweiligen Ländern zu berücksichtigen. All dies gefährde die Möglichkeit einer konstruktiven Zusammenarbeit im Bereich der Raketenabwehrsysteme innerhalb des NATO-Russland-Rates.

Obwohl der Kalte Krieg offiziell längst der Vergangenheit angehört imitieren die beteiligungsstärksten Manöver der russischen Armee einen Konflikt Russlands mit dem Westen und insbesondere der NATO. Die russische Militärführung macht kein Geheimnis daraus, dass etwa 80 Prozent der Armeeressourcen auf eine bewaffnete Auseinandersetzung gegen die NATO ausgerichtet sind. In diesen Kontext gehört beispielsweise auch der Untergang des U-Boots „Kursk“ in der Barentssee, denn das Unglück geschah während eines Manövers, bei dem der Überfall auf eine Gruppe amerikanischer Flugzeugträger geübt wurde. Dazu zählen auch die Manöver in der Kaliningrader Gegend, da dort die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Kriegsausbruchs zwischen Russland und der NATO als relativ hoch eingestuft wird.

Die stetigen Versicherungen der US-Militärs, wonach der neuerliche Vorstoß zur Stationierung von US-Raketenbasen sich keinesfalls gegen Russland richte, werden indes durch deren strategische Planung widerlegt. Um Russland herum errichteten die USA in den vergangenen acht Jahren zahlreiche Stützpunkte in Südosteuropa, Mittelasien, Afghanistan und Pakistan. Anfang diesen Jahres wurde schließlich mit Japan ein Kooperationsvertrag zur Raketenabwehr geschlossen. Außerdem beabsichtigen die USA bislang nicht, den 2009 auslaufenden Start-I Vertrag zur Begrenzung landgestützter Nuklearwaffen zu verlängern. Die USA fordern damit Russland langfristig zu einem neuen Wettrüsten heraus. Russland bleibt gar keine andere Wahl diese Herausforderung anzunehmen. Auf der diesjährigen Sicherheitskonferenz in München hatte Putin deutlich hervorgehoben, dass sich Russland nicht mit einer Weltordnung zufrieden geben wird, die monopolar auf die Interessen der USA ausgerichtet ist.

Seine Doppelstrategie, die einerseits auf Dialog und Kooperation mit der EU, NATO und der „Antiterrorallianz“ ausgerichtet ist und andererseits die Modernisierung der eigenen Atomstreitkräfte vorantreibt, wird allerdings einer schweren Prüfung unterzogen. Russlands Stellung wird im Weiteren stark von der Positionierung der EU-Länder abhängen. Einem neuerlichen Wettrüsten könnte nach Ansicht von Militärexperte Felgenhauer Russland gar nicht standhalten. Verteidigungsminister Iwanow will zwar bis zum Jahr 2015 etwa 45 Prozent der Militärtechnik ausgewechselt haben und betont, dass die Streitkräfte ihre vormals „kritische Lage“ überwunden haben, aber allein finanziell betrachtet liegen die Ausgaben für den russischen Rüstungshaushalt um ein Vielfaches unter den US-amerikanischen.

Außerdem betreibe das Verteidigungsministerium Augenwischerei. Um die Jahreswende verabschiedete die Duma ein Gesetz, welches die Verleihung militärischer Ränge bis hin zum Oberst an Reservisten deutlich vereinfacht. Dafür ist nicht einmal mehr die Teilnahme an Militärmanövern vorgesehen. Dieser Vorgang kommt einem Deal gleich: die Dumaabgeordneten erhalten auf Wunsch einen hohen karriereförderlichen militärischen Rang, das Verteidigungsministerium wachsende Haushaltszuschüsse, von denen auch andere Strukturen aus dem Sicherheitsapparat profitieren, wie beispielsweise der Inlandsgeheimdienst FSB und das Innenministerium.

Mit dem neuen Gesetz wird jedoch auch ein deutliches Zeichen gegen die Einführung einer vieldiskutierten Berufsarmee in Russland gesetzt. Dafür sei kein Geld im Haushalt vorhanden, stattdessen wird die Wehrfähigkeit durch Reservisten zumindest pro forma aufrechterhalten. In den Wehrkommandos sind landesweit über 20 Millionen Reservisten erfasst. Aber in einem nuklearen Kriegszenario ist letztlich nicht die Quantität ausschlaggebend.

Ute Weinmann

ak Nr. 516

 

 

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