Jelzin ist tot, es lebe Putin!

Die Nachrufe auf den ersten Staatspräsidenten der russischen Förderation betonen, dass der Verstorbene sich den richtigen Nachfolger ausgesucht habe.

Über Tote kurz nach ihrem Ableben wird nie so geredet wie über Lebende. Ehemalige Staatspräsidenten sind da keineswegs eine Ausnahme. Höchstens mit der kleinen Einschränkung, dass das Wirken wichtiger Politiker das Leben der kompletten Bevölkerung beeinflusst hat und somit alle etwas über die Person zu sagen haben. Es gibt in der Regel zwei Arten, über Verstorbene zu sprechen – entweder bietet sich durch den Tod endlich die Gelegenheit abzurechnen, was zu Lebzeiten des Betreffenden aus welchen Gründen auch immer unangemessen war, oder aber man verfügt über gute Gründe, den Toten in einem rosigen Licht erscheinen zu lassen, und schwelgt in den höchsten Tönen.

Boris Jelzin, dem ersten Staatspräsidenten der Russischen Föderation, waren während seiner aktiven Zeit als Politiker sowohl überschwängliches Lob als auch verheerende Kritik an seiner Person und Politik nicht fremd. Sein Tod infolge von Herzversagen am 23. April hätte unter anderen Umständen eine gute Gelegenheit bieten können, um Bilanz zu ziehen. Je nach Perspektive würde diese völlig unterschiedlich ausfallen. Jelzin steht für die Dezentralisierung eines zentralistischen Machtapparates, das Versprechen auf Pressefreiheit und Demokratisierung einer autoritär geprägten Gesellschaft genauso wie für die Freigabe der Preisbindung für Lebensmittel und Gebrauchsgüter, Privatisierung, Chaos und wirtschaftlichen Niedergang. Unter ihm erwarb ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft sagenhaften Reichtum, während der Großteil nach wie vor mühsam den krisenhaften Alltag bewältigen muss.

Nach der Machtübergabe an den neuen Präsidenten Wladimir Putin lösten sich die Reste der positiven Errungenschaften aus der Jelzin-Ära in Luft auf. Meinungs- und Pressefreiheit basierten in den neunziger Jahren nur zu offensichtlich auf dem Willen des ersten Staatspräsidenten. Die Überbleibsel sozialstaatlicher Absicherung unter Jelzin beseitigte dessen Nachfolger. Unterm Strich dürfte sich das Lob für Jelzins Wirken jedenfalls in Grenzen halten. Dies belegen Umfrageergebnisse des Levada-Zentrums, wonach 70 Prozent der Befragten Jelzins historische Rolle eindeutig negativ bewerteten.

Ganz anders nehmen sich hingegen die Stimmen in den Medien aus. Die meisten Nachrufe klingen überaus versöhnlich, was allerdings weniger an einem allzu kurzen Gedächtnis liegt als vielmehr an dem Bestreben, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im heutigen Russland als naturgegebene Normalität erscheinen zu lassen. Gespiegelt durch die Person, die wie keine andere den Übergang vom Staatssozialismus zum ungebändigten Kapitalismus verkörpert hatte, kommen erst gar keine Gedanken nach einer etwaigen Alternative auf.

Die Tageszeitung Novyje Izvestija veröffentlichte einen Kommentar, der eine kritische Haltung erst gar nicht aufkommen lässt: »Alle Kritik, die dem Steuermann zu Lebzeiten von jenen entgegengebracht wurde, die mit ihm in einem Boot saßen; alle Vorwürfe, die ihm zukünftige Historiker bereiten werden, sie alle werden durch die entscheidende Tatsache gegenstandslos: Unter Jelzin haben wir uns voranbewegt und wurden ein Teil des Meeres.«

Die Redaktion der wirtschaftsliberalen Tageszeitung Vedomosti charakterisierte Jelzin als Menschen, dem das »komplette Repertoire nationaler Unzulänglichkeiten« zueigen war, nämlich »Jähzorn, Abhängigkeit von seiner Umgebung, Empfänglichkeit für Schmeicheleien, Vetternwirtschaft, Hoffnung auf Glück«, aber auch eine Reihe positiver Eigenschaften wie »Hartnäckigkeit bei der Erreichung seiner Ziele, ein großes Herz und der Hang zu Neuerungen«. Die Zeitung meint: »Die Widersprüchlichkeit im Charakter, seine Handlungen und Entscheidungen entsprachen dem historischen Moment.« Eine neugeborene Demokratie überlebe nur dann, »wenn sie über ein Schutzschild gegen die Restauration verfügt. Jelzin war dieses Schutzschild.«

Vedomosti zitierte eines der seltenen Interviews des Ex-Präsidenten, das er vor seinem 75. Geburtstag im Jahr 2006 der Wochenzeitschrift Itogi gegeben hat. »Ich bin froh, dass ich mich nicht geirrt habe, als ich meine Entscheidung zugunsten von Wladimir Putin getroffen habe«, hieß es da. Auf die Politik des Kreml angesprochen, antwortete er mit dem Kommentar: »Das Wichtigste ist der strategische Kurs, diesen unterstütze ich, ich halte ihn für den richtigen.«

Die dem Kreml nahe stehende Zeitung Komsomolskaja Pravda hebt wie eine Reihe weiterer Zeitungen besonders hervor, dass Jelzin der »erste war, der freiwillig seine Macht abgegeben hat« und sich komplett aus der Politik zurückzog. »Er versprach, in den Ruhestand zu gehen, und hat sein Wort gehalten. Er führte das ruhige Leben eines älteren Menschen, eines Rentners … « Über den Einfluss, den er über seine Clique ausübt, hüllt sich die Zeitung in Schweigen. Jelzin hatte eine große »Familie«, eine Familie, die zunächst noch unter seiner Führung, später auch ohne seine aktive Unterstützung weiter wirkte. Jelzins demonstrative Nichteinmischung in die politischen Angelegenheiten der Elite bezeichnet die Komsomolskaja Pravda als Beweis für die »Reife des Landes«. Das Blatt suggeriert, Russland habe den Traum des ersten russischen Präsidenten verwirklicht und den Übergang in eine stabile Demokratie bewältigt. Wladimir Putin setze dessen Werk in gleicher Weise fort. Jelzin habe sich nicht geirrt mit der Auswahl seines Nachfolgers, »man sagt, er hatte eine unvergleichliche Intuition«.

Weiter heißt es: »Boris Nikolajewitsch genoss in der Zeit nach seiner aktiven politischen Karriere Ansehen für seine Verdienste, seine Fehler wurden ihm vergeben.« Tatsächlich bat Jelzin in der Öffentlichkeit um Vergebung für seine Fehler, ein Umstand, der ihm durchaus Respekt einbrachte.

In der gleichen Zeitung wurden eine Reihe bekannter Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens zu Jelzins Tod befragt. Der positive Grundkonsens fällt sofort auf. Nur der rechte Politiker und Chefredakteur der nationalpatriotischen Zeitung Zavtra, Alexander Prochanow, wird mit einem negativen Fazit zitiert: »Das war die katastrophalste Epoche in der Geschichte des Landes. Jelzin hat seine Heimat zerstört. Er hat aus den Panzern heraus das Parlament beschießen lassen, den ersten Tschetschenien-Krieg entfesselt, das Volkseigentum in die Hände der Oligarchen übergeben.«

Die Leningradskaja Pravda setzte einen anderen Akzent und titelte ihren Artikel mit »Jelzins zaristische Beerdigung« in Anspielung darauf, dass erstmals seit 113 Jahren, nämlich seit der Beerdigung von Alexander III., dem Vater des letzten, im Revolutionsjahr 1917 gestürzten Zaren Nikolaj II., ein Staatsführer wieder unter Einhaltung der kirchlich-orthodoxen Begräbnisrituale beigesetzt wurde. Zu Sowjetzeiten fanden Totenmessen unter Ausschluss der Öffentlichkeit höchstens bei niedereren Rängen statt, ob auf Wunsch des Toten oder der Angehörigen.

Der Moskovskij Komsomolets bittet im Titel Boris Jelzin um Vergebung und zitiert dessen Worte, wonach er die Hoffnungen vieler nicht erfüllt habe, von der »grauen, stagnierenden, totalitären Vergangenheit in eine lichte, reiche und zivilisierte Zukunft« zu gelangen. Mit der Frage, wie dies zu erfüllen wäre, mag sich heute offenbar niemand beschäftigen.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2007/18/19586.html

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