Ein Regierungsgremium soll verhindern, dass die Geschichtsschreibung das Prestige Russlands mindert.
»Wer sich unvoreingenommen mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs beschäftigt hat, weiß, dass er mit der Weigerung Polens begann, die deutschen Forderungen zu erfüllen.« Was wie eine althergebrachte revisionistische Einschätzung aus NPD-Kreisen klingt, konnte man Anfang Juni auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums nachlesen. Unter der Rubrik »Geschichte gegen Lüge und Fälschung« fand sich ein Text mit dem Titel »Fiktion und Verfälschung der Bewertung der Rolle der UdSSR am Vorabend und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs«. Der Autor Sergej Kowaljow, Historiker am Militärgeschichtlichen Institut des Verteidigungsministeriums, wirft Polen Großmachtambitionen vor und stuft Deutschlands damaligen Anspruch auf Danzig als »überaus gemäßigt« und »nicht unbegründet« ein.
Nachdem die Öffentlichkeit auf den Eintrag aufmerksam geworden war und sich eine Reihe russischer Historiker vehement gegen die These von der polnischen Schuld am Kriegsausbruch ausgesprochen hatte, sah sich das Verteidigungsministerium zu einer Stellungnahme veranlasst. Der Text präsentiere keineswegs die offizielle Sicht des Ministeriums, sondern stelle lediglich einen »Diskussionsbeitrag« dar. Zu diesem Zeitpunkt war der Text allerdings schon aus dem Netz genommen worden.
Hätte der Autor sein Werk einige Wochen früher veröffentlicht, wäre die Resonanz womöglich geringer ausgefallen. Erhöhte Aufmerksamkeit war der Internetpublikation aber allein wegen der jüngsten Aktivitäten des russischen Präsidenten sicher. Zum Tag des Sieges über den Faschismus äußerte sich Dmitrij Medwedjew nämlich in seinem Webblog besorgt über die in letzter Zeit immer »härter, böser, aggressiver« werdenden Versuche, Geschichtsverfälschung zu betreiben. Kaum waren die Feiertage um, ließ er Mitte Mai per Ukas eine historische »Wahrheitskommission« einberufen.
Mit Aufklärung oder historischer Wahrheitsfindung hat diese Initiative indes wenig gemein. Bereits die personelle Besetzung legt diese Schlussfolgerung nahe. Historiker sind in der Minderheit, stattdessen finden sich in der Namensauflistung neben dem Generalstabschef und dem stellvertretenden Verteidigungsminister überwiegend Repräsentanten des Außenministeriums, der Geheimdienste und weiterer Behörden.
Den Vorsitz der aus 28 Personen bestehenden illustren und von Männern dominierten Runde übernimmt Sergej Naryschkin, der Leiter der Präsidialadministration von Medwedjew. Seine rechte Hand, der stellvertretende Minister für Bildung und Wissenschaft, Isaak Kalina, hatte sich bereits landesweit mit der von ihm angestrebten Einführung eines neuen Geschichtsbuches für den Schulunterricht einen Namen gemacht. Darin taucht Stalin als effektiver Manager auf, der Große Terror wird als Randerscheinung abgehandelt.
Zu den Aufgaben der »Wahrheitskommission« gehört die »Zusammenfassung und Analyse von Informationen über die Verfälschung historischer Fakten und Ereignisse, die auf eine internationale Prestigeminderung der Russischen Föderation ausgerichtet ist«. Es soll eine Strategie erarbeitet werden, um derartige Bestrebungen im Keim zu ersticken. Für Miesmacher, die sich an der russischen Geschichte vergreifen wollen, brechen demnach schlechte Zeiten an.
Erste vehemente Eingriffe in die Arbeit von Historikern, die sich mit der sowjetischen Geschichte beschäftigen, erfolgten nach einer kurzen Zeit der Öffnung bereits Mitte der neunziger Jahre. Mit der »Ressortübergreifenden Kommission zum Schutz von Staatsgeheimnissen« wurde eine Institution ins Leben gerufen, deren Aufgabe es war, eine riesige Menge an vormals geheimen Dokumenten freizugeben. Eilig hatte die Kommission es nicht, im Jahr 2008 waren gerade mal 2 000 Dokumente zugänglich gemacht worden, andere wurden dem Zugriff von Historikern sogar entzogen. Die Bestände der »Gerichtskommission« der Kommunistischen Partei, die seit 1924 über alle Todesurteile entschied, gehören nach wie vor zu den bestgehüteten Staatsgeheimnissen.
Experten sind sich uneins darüber, ob die Arbeit der »Wahrheitskommission« weitreichende Auswirkungen haben wird, denn nicht selten folgt in Russland einer Aufsehen erregenden Maßnahme bürokratischer Leerlauf. Doch der Begriff der »Prestigeminderung« ist so schwammig, dass bei Bedarf praktisch jede Interpretation eines beliebigen Ereignisses in der russischen Geschichte als schädigend ausgelegt werden kann. Auch konzentriert sich die staatliche Aufmerksamkeit nicht allein auf die Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen.
Vielmehr richtet sich der Blick auf eine Reihe umstrittener Entwicklungen in den vormaligen Sowjetrepubliken, allen voran der Ukraine, wo die Hungersnot Anfang der dreißiger Jahre von Nationalisten als »Völkermord« bezeichnet wird, und dem Baltikum, wo Kritik am Vorgehen sowjetischer Sondereinheiten nach dem Einmarsch der Roten Armee mit der Relativierung von NS-Verbrechen und der eigenen Beteiligung an diesen Verbrechen einhergeht. Dass auch Polen angegriffen wird, liegt nicht zuletzt an der konstanten Weigerung Russlands, die Verantwortung der sowjetischen Führung für die Ermordung Tausender polnischer Offiziere und Zivilisten im Frühjahr 1940 in Katyn anzuerkennen.
Zum zentralen Datum der Identifikation geriet unter der Präsidentschaft von Wladimir Putin der 9. Mai 1945. Russland ist auf den schwer erkämpften Sieg über den Faschismus so sehr fixiert, dass jede kritische Betrachtung der Begleitumstände und Folgen verdächtig erscheint. Wer die Urteile der Nürnberger Prozesse entstellt, die Handlungen der Alliierten als verbrecherisch bezeichnet oder NS-Verbrechen leugnet, soll in Zukunft mit drei Jahren Haft bestraft werden können. Tauchen solche Aussagen in den Medien auf, erhöht sich die Strafe auf fünf Jahre. So sieht es eine von der regierungstreuen Partei Einiges Russland eingebrachte Gesetzesinitiative vor. Über deren Berechtigung könnte man noch diskutieren, würden solche Strafmaßnahmen von einer Förderung öffentlicher Debatten und einer kritischen Geschichtswissenschaft begleitet, einschließlich der vollständigen Aufklärung über NS-Verbrechen. Über die Ermordung der sowjetischen Juden etwa ist weniger bekannt, als man meinen sollte. So aber sichert sich die russische Führung lediglich ein weiteres Instrument zur Bekämpfung unliebsamer Kritik.
Ute Weinmann