Die Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa wurde in Tschetschenien entführt und ermordet. Die Gewaltherrschaft des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow wird von der russischen Regierung unterstützt.
Mit zwei Kugeln in der Herzgegend und einer Kugel im Kopf wurde am Mittwoch voriger Woche die Leiche von Natalja Estemirowa entdeckt. Am frühen Morgen zerrten unbekannte Männer die langjährige führende Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial mit Gewalt in ein Auto, kurz nachdem sie ihre Wohnung in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny verlassen hatte. Augenzeugen hatten die Szene beobachtet, aber nichts unternommen. Der Wagen gelangte unkontrolliert über die Republikgrenze in das benachbarte Inguschetien, wo derzeit unter der Befehlsmacht des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow eine »Antiterroroperation« gegen tatsächliche und vermeintliche bewaffnete Aufständische im Gange ist.
Kadyrow äußerte nach dem Mord die Vermutung, seine Gegner im Untergrund, die ihn diskreditieren wollen, stünden hinter der Tat. Die 50jährige Natalja Estemirowa hatte eine Schlüsselrolle bei der Aufdeckung von Entführungen, Brandstiftungen und öffentlichen Hinrichtungen, Verbrechen, die in Tschetschenien alltäglich sind. Praktisch alle Menschenrechtsorganisationen, die sich mit der Region beschäftigen, stützten sich auf ihre Informationen, einschließlich der tschetschenischen Strafverfolger. Das ist kein Wunder, denn die von Gewalttaten Betroffenen wagen aus Angst vor möglichen Konsequenzen nur selten, über die Verbrechen zu reden. Wer sich überhaupt Hilfe erhoffte, wandte sich an Natalja Estemirowa und keinesfalls an die Miliz oder die Staatsanwaltschaft.
Es sind, anders als während des Tschetschenien-Kriegs, nicht mehr die Untergrundkämpfer, die Menschen verschleppen. Die Entführungen gehen, soweit sich das nach Augenzeugenberichten über Uniformen und Abzeichen nachvollziehen lässt, auf das Konto tschetschenischer Sicherheitskräfte. Nach einer kurzen Phase der relativen Entspannung im Jahr 2007 mit 35 Entführungen gab es wieder einen Anstieg. 2008 waren es 42, und allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden fast 80 Menschen verschleppt.
Nicht alle Entführungen enden mit einem Mord. Strafaktionen gegen Menschen, deren Söhne, Brüder oder entferntere Verwandte sich den Untergrundgruppen angeschlossen haben, nehmen jedoch zu. Die Ermittlungen, wenn sie überhaupt geführt werden, bleiben ergebnislos. Alexander Tscherkasow, Kaukasus-Experte von Memorial, bezeichnet die Lage in Tschetschenien als »organisierte Straffreiheit«.
Wenige Tage vor dem Mord an Natalja Estemirowa teilte der tschetschenische Menschenrechtsbeauftragte ihr mit, die politische Führung sei empört über die öffentliche Vorgehensweise von Memorial in Grozny. Es dürfe ermittelt werden, die vorliegenden Erkenntnisse und Beweise seien jedoch allein dem Präsidenten mitzuteilen. Diese Aussage konnte als Drohung interpretiert werden. Der Anlass dürfte die öffentliche Hinrichtung von Rizwan Albekow am 7. Juli im tschetschenischen Dorf Achkintschu-Borzoj gewesen sein, an deren Aufdeckung Natalja Estemirowa einen entscheidenden Anteil hatte. Ihr Kollege Alexander Tscherkasow schließt nicht aus, dass diese Enthüllung den tschetschenischen Sicherheitsapparat zu einer Racheaktion gegen die mutige und konsequente Menschenrechtlerin veranlasste.
Der Leiter des Menschenrechtszentrums von Memorial, Oleg Orlow, ging noch weiter. Er bezichtigte Ramsan Kadyrow bei einer Pressekonferenz öffentlich der Schuld an dem Mord. Das wollte Kadyrow nicht auf sich sitzen lassen, er rief prompt Orlow an, um das Gespräch »von Mann zu Mann« zu suchen. Kadyrow sagte, er sei unschuldig, außerdem unterstünden die Sicherheitskräfte nicht seiner Kontrolle, lediglich als Präsident trage er die Verantwortung für die Vorkommnisse in der Republik. Später versprach er öffentlich, die Ermittlungen nicht nur auf dem offiziellen Weg zu führen, sondern auch »im Einklang mit den Traditionen der Tschetschenen«.
Genau gegen diese angebliche Traditionspflege setzte sich Natalja Estemirowa in aller Öffentlichkeit zur Wehr. Sie scheute nicht einmal die direkte Konfrontation mit Kadyrow. Genau darin dürfte ihr größtes Vergehen gelegen haben. Kadyrows Herrschaft stützt sich nicht nur auf systematische Gewaltanwendung, sondern auch auf die Erniedrigung aller Untergebenen und die Inszenierung seiner Führung nach den Regeln des stalinistischen Personenkults.
Menschen werden vor laufenden Kameras gezwungen, sich von ihren Verwandten zu distanzieren. Gegen Frauen, die sich weigern, ein Kopftuch zu tragen, läuft eine regelrechte Hetzkampagne. Mitstreiter für seine Sache findet der Präsident auch außerhalb Tschetscheniens. So demonstriert derzeit einmal pro Woche das kanadische Model Chrystal Callahan für Grozny TV die Vorzüge schicker Kopftücher, wie sie die »traditionsbewusste« tschetschenische Frau trägt, und erläutert dem der russischen und tschetschenischen Sprache nicht mächtigen Auslandspublikum Kadyrows Verdienste für die Republik.
Von der russischen Regierung erhält der Präsident volle Unterstützung, trotz der Tatsache, dass Kadyrow keineswegs alles unter Kontrolle hält. So hat die systematische Gewaltanwendung viele junge Menschen in die Berge zu den bewaffneten Gruppen getrieben. Es wäre falsch, alle Kämpfer im Untergrund als Jihadisten zu bezeichnen. Allerdings ist es dem islamistischen Warlord und »Emir« Doku Umarow gelungen, die meisten Gruppen unter seiner Führung zu vereinen und sich damit auch ideologischen Einfluss auf deren Kämpfer zu sichern.
Kadyrow gelingt es, der russischen Regierung ein Zugeständnis nach dem anderen abzuringen. Zuletzt setzte er im April 2009 die Abschaffung des seit 1999 geltenden Antiterrorregimes durch, das ihn wegen der Beschränkungen der Zollhoheit und der Präsenz föderaler Truppen schon längst störte. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Anwesenheit der Zentralmacht der allgegenwärtigen Tyrannei des tschetschenischen Sicherheitsapparats Grenzen setzen könnte, zieht sich die russische Regierung zurück.
Solange die tschetschenische Führung nicht die Unabhängigkeit von Russland propagiert, scheint die russische Regierung alle Gewaltexzesse mitzutragen. Kadyrows scheinbar erfolgreiche Politik verschafft ihm auch deshalb Unterstützung, weil die Situation in den umliegenden Kaukasus-Republiken zu eskalieren droht. Das hat zur Folge, dass ihm nun auch freie Hand im Antiterrorkampf in Inguschetien gewährt wird. An alternativen Konzepten zur Stabilisierung der Region fehlt es offensichtlich, denn das würde erfordern, über die gesamte gescheiterte Kaukasus-Politik nachzudenken.
Ute Weinmann