Nach den Massakern an Angehörigen der usbekischen Minderheit im Süden Kirgisiens bemüht sich die Übergangsregierung, das Gebiet zu kontrollieren. Ist der im April gestürzte Präsident Kurmanbek Bakijew verantwortlich für die Eskalation?
Die Barrikaden werden beseitigt, Polizisten durchsuchen Häuser nach Waffen und etwa 20 Verdächtige wurden festgenommen. Im Süden Kirgisiens scheint wieder Ruhe einzukehren. Am Abend des 6. Juni war es in der Stadt Osch zu einer Massenschlägerei mit schwerwiegenden Folgen gekommen. In der Nacht zum 11. Juni eskalierte die Situation zuerst in Osch, die Pogromstimmung griff dann auf Dschalalabad und andere benachbarte Regionen über. Durch Brandstiftung wurden Teile der usbekischen Stadtviertel und ganze Dörfer zerstört.
Fast auf den Tag genau 20 Jahre nachdem sich am 4. Juni 1990 zehntausende Angehörige der kirgisischen Mehrheitsbevölkerung an dem Massaker an der usbekischen Minderheit beteiligt hatten, wiederholte sich das Szenario an den gleichen Orten. Wie damals setzten die Pogrome in einer Umbruchszeit ein, in der die Staatsführung die Kontrolle über das Land verloren hat.
Nach offiziellen Angaben kamen bei den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen dem 11. und dem 15. Juni insgesamt 214 Menschen ums Leben, etwa 2 000 Verletzte wurden ärztlich behandelt. Schätzungen, die auf der Befragung von Augenzeugen beruhen, gehen von mehr als 2 000 Todesopfern aus. Rosa Otunbajewa, die Präsidentin der kirgisischen Interimsregierung, vermutet, dass die tatsächliche Opferzahl weit über den bislang gesicherten Angaben liege.
Die Flucht in das benachbarte Usbekistan schien für viele Menschen der einzige Ausweg zu sein, auch für russische Staatsbürger, die sich im Unruhegebiet aufgehalten hatten. Die usbekischen Behörden berichten von 75 000 Flüchtlingen, die derzeit abgeschottet unter inhumanen Bedingungen und teils ohne sauberes Trinkwasser in Lagern untergebracht sind.
Viele tausend der dem Massaker Entkommenen sträuben sich gegen eine Rückkehr nach Kirgisien, doch die usbekische Regierung ist nicht gewillt, ihnen einen legalen Aufenthalt im Land zu ermöglichen. Ein Grund für diese harte Haltung dürfte sein, dass die usbekische Führung den Einfluß islamistischer Gruppierungen fürchtet, insbesondere der Hizb al-Tahrir, deren Anhänger sich wegen der rigiden Verfolgung in Usbekistan zu einem Großteil in das benachbarte Kirgisien abgesetzt hatten.
Die kirgisische Interimsregierung, die nach dem Sturz Präsident Kurmanbek Bakijews im April die Macht übernommen hat, wusste sich nach den tagelang andauernden Pogromen nicht anders zu helfen, als um militärische Unterstützung aus dem Ausland zu bitten. Die USA lehnten allerdings trotz mehrmaliger Anfrage eine Intervention ab. Erst fünf Tage nach der Eskalation in Osch und in der Region um Dschalalabad deutete die US-Regierung ihre Bereitschaft zu einem militärischen Einsatz im Rahmen einer UN- oder OSZE-Mission an, sofern sich auch russische Armeekontingente beteiligen würden. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Unruhen bereits wieder etwas gelegt. Die kirgisische Interimsregierung befand daher, dass die bislang getroffenen Maßnahmen ausreichend seien, und entschied sich gegen einen Einsatz ausländischer Friedenstruppen.
Der russische Präsident Dmitrij Medwedjew schließt Maßnahmen, die über die Bereitstellung humanitärer Hilfe hinausgehen, kategorisch aus. Es handele sich bei dem Konflikt um eine rein innenpolitische Angelegenheit, deshalb müsse die kirgisische Regierung nach einer Lösung suchen.
So viel Zurückhaltung scheint unvereinbar mit dem von den Medien gezeichneten Bild eines machtbessesenen Aggressors, zumal Kirgisien als ehemalige Kolonie und Sowjetrepublik ein Teil der klassischen russischen Einflusssphäre ist. Doch liegen die Nachteile einer möglichen russischen Intervention auf der Hand. Sollte Russland sich unter den gegebenen Bedingungen als Ordnungsmacht in der Region profilieren, ist nicht auszuschließen, dass die derzeit überwiegend prorussische Stimmung einer negativen Haltung weicht.
Wiederholt hat Russland sich in der Vergangenheit bemüht, seine militärische Position in Kirgisien auszubauen. Doch war die Regierung im vorigen Jahr mit ihren Plänen gescheitert, im Süden Kirigisiens unter der Ägide der »Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit«, eines Zusammenschlusses Russlands mit zentralasiatischen und kaukasischen Staaten, eine dauerhafte Militärpräsenz abzusichern. Der Fortbestand der US-Militärbasis Manas hingegen gilt unter der gegenwärtigen kirgisischen Regierung als gesichert. Dennoch drohte diese jüngst mit der Schließung, sollte Großbritannien sich weigern, Maxim Bakijew, den Sohn des gestürzten Präsidenten, auszuliefern. Bakijew Junior soll in Großbritannien nach den Pogromen in Osch einen Asylantrag gestellt haben, sein Vater hält sich in der belorussischen Hauptstadt Minsk auf.
Die wichtigste Frage allerdings, nämlich wer die Eskalationen im Süden Kirgisiens zu verantworten hat, bleibt bislang unbeantwortet. Der Hauptverdächtige ist Kurmanbek Bakijew. Auf kirgisischen Internetseiten tauchten Meldungen auf, denen zufolge Zhanysch Bakijew, der jüngere Bruder Maxims, am 12. Juni mit einer bewaffneten Einheit in Dschalalabad gesichtet worden ist.
Viele Augenzeugen der Pogrome, darunter auch der ehemalige sowjetische Geheimdienstmitarbeiter und derzeitige stellvertretende Vorsitzende des Staatskomitees für nationale Sicherheit, Kubatbek Bajbolow, geben an, dass sich eigens angereiste Tadschiken an den Übergriffen auf die lokale Bevölkerung aktiv beteiligt hätten. Diese seien in Autos mit abgedunkelten Scheiben unterwegs gewesen und hätten sowohl auf Kirgisen als auch auf Usbeken geschossen. Die kirgisische Polizei verfüge über entsprechende Beweise und Geständnisse einiger festgenommenen Tadschiken.
Bislang wurde nur der Name von Fajzullah Rahmanow genannt, der im Mai dieses Jahres nach Unruhen im Süden einen Tag lang als Gouverneur von Dschalalabad amtierte. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass bereits kurz nach Bakijews Sturz Kämpfer des tadschikischen Bürgerkriegs Anfang der neunziger Jahre, die aus Angst vor politischer Verfolgung in Moskau leben, für einen Einsatz in Kirgisien angeworben wurden. Gegen Bargeld und das Versprechen, Papiere für eine Rückkehr nach Tadschikistan zu erhalten, sollen sie eingewilligt haben.
Im April hatte die Interimsregierung ein Referendum über eine neue Verfassung für den 27. Juni angesetzt. Am 10. Oktober sollen Parlamentswahlen folgen. Trotz ihrer offensichtlichen Schwäche und des fehlenden Rückhalts insbesondere im Süden des Landes hält die Regierung an diesen Plänen fest. Seit dem Sturz Kurmanbek Bakijews bemüht sich die Übergangsregierung vor allem, ihre Herrschaft zu legitimieren. Das Legitimationsproblem hat sich mit den Unruhen im Süden noch verschärft. Nun versucht die kirgisische Regierung zwar, Stärke zu demonstrieren, zumal viele Beobachter eine Spaltung des Landes befürchten. Ob die Abstimmung unter den gegebenen Bedingungen durchgeführt werden kann, ohne dass es zur erneuten Eskalation kommt, ist aber fraglich. Womöglich bleibt der Interimsregierung um Rosa Otunbajewa keine andere Wahl, als das Referendum zu verschieben.
Bei der Abstimmung über die neue Verfassung geht es vor allem um Veränderungen in den politischen Machtstrukturen des Landes. Wegen der schlechten Erfahrungen mit dem Präsidialsystem hatte die Interimsregierung nach dem Sturz Bakijews versprochen, dem Staatsoberhaupt nur noch symbolische Aufgaben zu übertragen. Doch sieht auch die neue Verfassung vor, den Präsidenten, der direkt für eine einmalige Amtszeit von sechs Jahren gewählt werden soll, mit umfangreichen Vollmachten auszustatten. Unter anderem soll er die wichtigsten Minister, den Generalstaatsanwalt und den Vorsitzenden der Nationalbank ernennen können.
Formal bedürfen die Ernennungen zwar der Zustimmung des Parlaments. Ob das Parlaments den Präsidenten tatsächlich kontrolliert, hängt indes nicht nur von dessen Zusammensetzung ab, sonden auch davon, ob sich die Abgeordneten auch durchringen können, von ihren Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Die kirgisische Opposition ist im Parlament bislang kaum vertreten und am offiziellen politischen Prozess gar nicht oder nur marginal beteiligt. Nicht zuletzt deshalb werden politische Konflikte auf der Straße ausgetragen, und Lösungen sind schwer zu finden, da es an Mechanismen für Verhandlungen und für einen Interessenausleich fehlt.
Wenn eine Mehrheit der Bevölkerung den Verfassungsänderungen zustimmt, übernimmt Rosa Otunbajewa automatisch das Präsidentenamt bis zu den im Jahr 2012 vorgesehenen Wahlen. Allein dieser Umstand reduziert die Zahl möglicher Bündnispartner unter den politischen Konkurrenten, die beabsichtigen, bereits zu einem früheren Zeitpunkt bei Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Ein Aufschub des Referendums, der mit einer inhaltlichen Korrektur einhergehen könnte, käme diesem Personenkreis äußerst gelegen.
Zu den bekanntesten Kritikern der Übergangsregierung, denen durch die jüngsten Ereignisse eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil wird, gehört der ehemalige Premierminister Felix Kulow. Die »Tulpenrevolution« im Jahr 2005 hat ihm seinerzeit Popularität verschafft. Gegen ein Referendum zum geplanten Zeitpunkt spricht sich auch der vormalige Präsidentschaftskandidat Ajdaraly Ajtikejew aus. Seine Haltung begründet er allerdings mit dem populistischen Argument, dass eine Abstimmung vor dem Ablauf der 40tägigen Trauerzeit um die bei den Pogromen im Süden Getöteten eine Beleidung der Gefühle der Bevölkerung bedeute.
Auch die Worte Almazbek Atambajews, des ersten Vizepremierministers der Übergangsregierung und Anführers der Sozialdemokratischen Partei, könnten als Stellungnahme für einen beginnende Wahlkampf verstanden werden. Atambajew dankte für die Hilfsleistungen ausländischer Staaten und fügte hinzu: »Sie müssen wissen, dass wir niemals und für niemanden Sklaven sein werden.«
Ute Weinmann