Zum Ausbau der deutsch-russischen Beziehungen gehört auch ein Dialog der »Zivilgesellschaft«. Vor allem will Deutschland seine Exporte steigern, während Russland Investitionen und moderne Technologie benötigt.
Deutschland ist die Nummer Eins. Jedenfalls sagte das der russische Präsident Dmitrij Medwedjew Mitte Juli bei den deutsch-russischen Regierungskonsultationen in Jekaterinburg. Das klingt in den Ohren vieler Deutscher wie eine altbekannte Gewissheit, die man aber immer wieder gerne hört, besonders von Ausländern. Wenn der Präsident eines großen und mit reichen Energieressourcen gesegneten Landes diese Worte ausspricht, sind lukrative Aufträge und hohe Gewinne für die deutsche Wirtschaft zu erwarten.
Russland soll modernisiert werden. Das ist in der Tat bitter nötig, doch dafür bedarf es der Unterstützung aus dem Ausland. Medwedjews eindeutige Stärke ist die Außenpolitik, zumindest aus westlicher Sicht. So verordnete er den russischen Botschaftern, die bisher an einer bipolaren Weltsicht orientierten waren, am 12. Juli einen radikalen Kurswechsel. Ab sofort haben neben dem Verhältnis zu den USA die Beziehungen zu den EU-Staaten, insbesondere zu Deutschland, absolute Priorität. In Jekaterinburg wurde diese Absichtserklärung wenige Tage später konkretisiert.
Dmitrij Medwedjew hat einige ambitionierte Projekte geplant, die er über eine strategische russisch-deutsche Partnerschaft verwirklichen will. Ein Ergebnis der Regierungskonsultationen ist es, dass der Siemens-Konzern in das von Medwedjew persönlich vorangetriebene High-Tech-Projekt Skolkowo einsteigt. Skolkowo gilt als das russische Silicon Valley, mit deutscher Hilfe sollen dort Labors für die medizinische und biologische Forschung eingerichtet werden. Geplant ist auch eine Zusammenarbeit in der Energieforschung, einschließlich der Atomkraftnutzung. Überdies will Siemens in Russland Turbinen für Windkraftanlagen produzieren.
Die Kooperation scheint den Interessen beider Seiten zu dienen. Russland benötigt die deutschen Investitionen und die Technologie, Deutschland kann fast ohne Konkurrenz seine Exporte steigern. Doch in Russland trifft die propagierte deutsch-russische Freundschaft keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Russische Wissenschaftler kritisierten unlängst, die politische Führung sei auf kostenintensive Prestigeprojekte wie in Skolkowo fixiert, von denen die russische Forschung nur zu einem geringen Teil profitiere. Gleichzeitig fehle es dem gesamten Wissenschaftsbereich an einer stabilen Finanzierung, mit lächerlichen Summen im zweistelligen Eurobereich abgespeiste Forschergruppen seien im Vergleich zu ausländischen Kollegen eindeutig im Nachteil.
Mit der Lieferung von 240 weiteren Hochgeschwindigkeitszügen des Siemens-Konzerns dürften sich die Probleme, die bereits mit den ersten, seit vergangenem Jahr auf der Strecke Moskau-St. Petersburg verkehrenden Zügen namens Sapsan (Wanderfalke) auftraten, weiter verschärfen. Was der russischen Oberschicht schnelle Fortbewegung und Komfort verspricht, ist der weniger betuchten Bevölkerung ein Dorn im Auge. Die Modernisierung russischer Art geht in der bisherigen Form eindeutig auf Kosten derer, die von den glanzvollen Zukunftsvisionen bestenfalls eine Spiegelfassade aus Glas zu sehen bekommen.
Zwar verkürzt der Sapsan die Fahrtzeit zwischen den beiden wichtigsten Metropolen Russlands von acht auf vier Stunden, das Problem ist neben den hohen Ticketpreisen jedoch, dass der schicke Zug auf ohnehin dicht befahrenen alten Bahngleisen verkehrt. Um dies zu ermöglichen, strich die Leitung der russischen Eisenbahn kurzerhand eine Reihe von Vorortzügen und verlängerte die Wartezeit für Autos an den Bahnübergängen, so dass die Bahnlinie zu einem Hindernis wurde.
Die Folgen sind verheerend. Für Pendler aus dem Moskauer Umland, die trotz langer Anfahrtswege auf ihre Arbeitsstelle in der Hauptstadt angewiesen sind, verlängert sich die Fahrtzeit. In der ohnehin darbenden lokalen Ökonomie muss mit weiteren Einbußen wegen der deutlich eingeschränkten Mobilität in der Region gerechnet werden. Nach der Inbetriebnahme des Sapsan auf der Strecke Moskau-Nizhnij Nowgorod spielten sich gar Szenen ab, die man eher aus Indien kennt. Etliche Passagiere der völlig überfüllten Vorortzüge mussten mit einem Sonnenplatz auf dem Dach Vorlieb nehmen.
In Jekaterinburg waren solche Nebenwirkungen der deutschen Wirtschaftexpansion jedoch kein Thema. Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Dmitrij Medwedjew machten einen überaus vergnügten Eindruck. Man schmeichelte sich gegenseitig, wo es nur ging. Die Deutschen äußerten Verständnis für die chauvinistischen Töne des Regisseurs Nikita Michalkow. Im Gegenzug sagte Medwedjew, dass fast die gesamte russische Delegation der deutschen Fußballelf bei der jüngsten Weltmeisterschaft die Daumen gedrückt habe. Man bemühte sich eifrig um Harmonie und beschwor eine gemeinsame tausendjährige Handelsgeschichte und Beziehungen, die bis in die Bronzezeit zurückreichten.
Parallel zu den deutsch-russischen Regierungskonsultationen fand als Treffen der »Zivilgesellschaft« bereits zum zehnten Mal der sogenannte Petersburger Dialog statt. Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur und einigen Nichtregierungsorganisationen tauschten sich mehr oder weniger kontrovers darüber aus, wie eine Annäherung beider Länder jenseits rein ökonomischer Interessen erreicht werden könnte. Traditionell heikle, aber hochaktuelle Themen wie die Menschenrechte wurden aber nur von einer Minderheit angesprochen.
Während Repräsentanten Russlands deutsche Unzulänglichkeiten in diesem Bereich erst gar nicht kommentieren und höchstens darauf verweisen, dass sich Deutschland bislang in der leidigen Frage der Visafreiheit wenig kooperativ gezeigt habe, sprach Angela Merkel ihren russischen Kollegen immerhin auf die unzulänglichen Ermittlungen im Mordfall Natalja Estemirowa an. Am 15. Juli 2009 war die Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entführt und kurz darauf ermordet worden.
Medwedjew entgegnete, dass der Täter bekannt und international zur Fahndung ausgeschrieben sei. Den Ermittlungen zufolge war einer der Entführer der im November 2009 während einer Militäroperation getötete ehemalige tschetschenische Kämpfer Alchazur Baschajew. An die Ernsthaftigkeit der Ermittlungen glauben Estemirowas Kollegen aber nicht. Zudem weist die Menschenrechtsorganisation Memorial darauf hin, dass sämtliche Strafverfahren in Tschetschenien, bei denen der Verdacht einer Beteiligung staatlicher Vertreter naheliegt, schleppend verlaufen und die Schuldigen in einem anderen Umfeld gesucht werden.
Innenpolitisch weicht Medwedjew nicht von der Linie seines Vorgängers Wladimir Putin ab, der jüngsten Umfragen zufolge mit Abstand vor seinem Juniorpartner Medwedjew läge, wenn bereits jetzt Präsidentschaftswahlen stattfänden. Aber die weiterhin autoritäre Innenpolitik dürfte den Ausbau der deutsch-russischen Beziehungen kaum beeinträchtigen.
Ute Weinmann